Gretchen
Wochen schon, nur gelernt hatte er noch nicht allzu viel, da Tykwer, sein Lehrmeister, in wissenschaftlichen Studien steckte, die sich auf ganz persönlicher Ebene mit den Variablen Ethanol und Delirium befassten. Und so kam es, dass Kyell schon nach kurzer Zeit Leben und Tod in seinen Händen zu jonglieren hatte.
3
Als Gretchen Morgenthau jung war, so jung und unschuldig wie ein Küken, und als sie in ihrem Zimmer am anderen Ende des Erdbeerfeldes stand, da sah sie ihre glorreiche Zukunft in einem Zirkus, als Nomadin die große weite Welt erkunden. In jenen Jahren hatte sie noch eine sehr verwunschene Vorstellung von einer Menagerie und einem Jahrmarkt, von der Artistik und der Jonglage. Es roch nach nassen Tieren und offenem Feuer, nach herbem Schweiß und süßem Parfum. Kühne Rabauken stritten um bunte Frauen, und der Esel machte Iah. Ein fahrendes Volk jenseits aller Konventionen, ein trubelndes Panoptikum aus Akrobaten, Dompteuren, Gauklern, Illusionisten wie auch Narren, Pyromanen und Dieben, und mittendrin sie, Gretchen Morgenthau, die dunkle und geheimnisumwitterte Prinzessin, die, all der bewundernden Blicke gewiss, auf einem stolzen Schimmel reitend die Manege erobert. Und dort wartete schon der Clown in der traurigen Gestalt, der am liebsten Jungfrauen meuchelte, und dem sie das Gerechte zu lehren auserkoren wurde. Ihre heimliche Liebe zum ungarischen Kartenabreißer war selbstverständlich tragisch, wenn nicht gar tragödisch. Denn Milan, wie der ungarische Kartenabreißer hieß, war dereinst Seiltänzer, bis er nach einem Sturz aus fünf Metern Höhe einen komplizierten Trümmerbruch davontrug und darob das linke Bein ein wenig nachzog. Das Gesicht sah auch nicht mehr so schön aus. Erst sehr viel später, mit zwölf Jahren, legte Gretchen ihre naiven Mädchenfantasien ab, sie wurde erwachsen und entschied sich für einen realistischen wie gleichsam seriösen Beruf: Auftragskiller.
Dass sie eines frühen Tages beim klassischen Theater landen würde, war weit weniger geplant. Steinig war der Weg, aber steinig war der Weg aller, wer wollte sich da groß beschweren, so er nicht Tölpel hieß oder wie die Neuberin gegen Fürsten, Grafen und Könige zu fechten hatte. Am Max Reinhardt Seminar wollte man Gretchen nicht, obwohl sie sich beim Vorsprechen extra die Stirn aufgeschnitten und mit ihrem Blut das Wort Knutschen auf den Boden gemalt hatte. Also ging sie nach Paris. In die Stadt ihrer Mädchenträume, in der Leben noch Sünde hieß und eine Frau noch Königin und nicht Kaltmamsell war. Sie verliebte sich schon beim ersten Besuch in das barocke Théâtre Antoine und in den ein oder anderen Existenzialisten, der ihr den Hof machte. Und sie liebte es, mit Freunden und Fremden bis in die frühen Morgenstunden in verrauchten und verruchten Etablissements zu sitzen, Boheme zu spielen, fachsimpelnd über Anouilh und Giraudoux zu streiten und die letzte Tartuffe-Aufführung zu vernichten, die doch so fürchterlich kitschig war. Es war eine Zeit, in der sie nur selten unangenehm auffiel, weil sie noch auf der Suche war und die Fesseln der Erziehung immer noch nicht abstreifen konnte. Das änderte sich jedoch schnell. Ihre Schauspielausbildung war nur von kurzer Weil, eine Katastrophe, wie sie später sagte. Dabei stand sie an ihrem ersten Tag mit großen Kulleraugen und gebührender Ehrfurcht vor dem Conservatoire National Supérieur d’Art Dramatique. Doch nach nur drei Monaten hatte sie sich mit allen Dozenten überworfen, die allesamt Dilettanten, Hurensöhne und Kleinkünstler waren. Auch ihre Zeit als Elevin bei Barrault war weit entfernt von einem harmonischen Tête-à-Tête, zum Abschied sollen gar Messer geflogen sein, aber das waren nur Gerüchte. Mit den wenigen Frauen, die in den Fünfzigern und Sechzigern eine Karriere am Theater wagten, war es auch nie wirklich einfach, es war, wie so oft unter Frauen, intrigant und kratzbürstig, gehässig und missgünstig. Sie ließ schließlich Racine, Marivaux und Molière in Frankreich, verließ ihr muffiges Apartment in der Rue des Martyrs, verließ Pigalle und all die Prostituierten, die ihr ans Herz gewachsen waren und siedelte nach England über. Genauer gesagt zu Ben, ihrem temporären Liebhaber, einem aufstrebenden Filmschauspieler, der immer so gut nach Whiskey und Vanille roch. Und ein letztes Mal versuchte sie es mit einem Studium, an der Royal Academy of Dramatic Art, und ein letztes Mal scheiterte sie. Aber sie verstand nun endgültig, dass ihr
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