Gretchen
waren. All das ergab keinen Sinn. Warum sollte Gretchen ihre alten Opfer ausgraben? Es sei denn, es waren keine Opfer.
»Lässt du jemanden bei den Friedhöfen nachfragen?«, sagte Henry.
»Ja. Bislang wurden keine unbefugten Exhumierungen gemeldet.«
Henry ließ seinen Kaugummi platzen und beugte sich vor, um die Leichen besser sehen zu können.
Er konnte unmöglich feststellen, ob sie Augen gehabt hatten, als sie begraben worden waren.
Henry hörte Lorenzo Robbins’ Stimme hinter sich. »Immer langsam, Quincy, das ist mein Job.«
Henry trat zur Seite, und Robbins kniete in seinem weißen Schutzanzug neben den Kadavern nieder. Er band sich die Rastalocken mit einem Gummiband zurück, das aussah, als stammte es von einer Zeitung, streifte sich violette Handschuhe über und musterte die Leichen von Kopf bis Fuß.
»Sie sind nicht zur selben Zeit gestorben«, sagte er. »Eine vielleicht vor drei, vier Jahren, die andere eher vor zwei.«
Henry sah die Kadaver mit zusammengekniffenen Augen an. Für ihn sahen sie gleich aus. »Woher wissen Sie das?«, fragte er.
»Weil ich Gerichtsmediziner bin«, sagte Robbins. »Und Sie sind keiner.« Er zog eine Stabtaschenlampe hervor und leuchtete in die Augenhöhlen der Toten. »Außerdem hat man ihnen die Augen entfernt.«
Henry beugte sich vor, um in die Augenhöhlen zu blicken.
Robbins scheuchte ihn fort. »Gehen Sie Polizeiarbeit machen.«
Henry wandte sich an Claire. »Wie sieht unser Zeitrahmen aus?«
»Der Park öffnet um halb acht«, sagte sie. »Es ist nicht schwer, früher hereinzukommen. Man muss nur über das Tor springen. Die Aufseher sagen, sie haben den Park gestern Abend zur Schließenszeit geräumt – das ist 21.00 Uhr. Die Leichen müssen also irgendwann nach neun und bevor die alte Dame sie kurz nach acht fand, aufgebaut worden sein. Sie hat ihren medizinischen Notalarm ausgelöst. Man dachte, sie habe einen Schlaganfall erlitten, und hat Feuerwehr, Notärzte und was weiß ich noch geschickt. Das Gelände war ziemlich zertrampelt.«
Henry blickte auf die großartige Ansicht Portlands hinaus. Die Skyline der Stadt. Die Berge. Wenn man die Hubschrauber der Nachrichtensender wegließ, die sich in der Ferne näherten, war es ein grandioser Anblick. Henry zählte die Schauplätze an den Fingern ab. »Die Gorge«, sagte er. »Pittock Mansion. Der Rosengarten. Was haben sie alle gemeinsam?«
Robbins blickte auf. »Den Buchstaben O.«
Claire schaute auf die Stadt hinunter. »Sie haben alle eine prächtige Aussicht.«
»Und keine Augen, um sie zu sehen«, sagte Henry.
»Sie könnten sie auch mit Augen nicht sehen«, bemerkte Robbins. »Sie sind tot.«
»Es ist eine Metapher, Herrgott noch mal«, sagte Henry.
_ 29 _
Die Adresse von Susans Karte befand sich auf der anderen Seite des Flusses, im Südwesten Portlands, in einem Viertel, in dem es keine Bäume oder Gehsteige gab. Sie hatten drei Stadtautobahnen benutzen müssen, um hinzukommen. Susan spähte durch die Windschutzscheibe zu dem gedrunge nen, hässlichen Bau. Die Windschutzscheibe war schmutzig – man konnte die Spur wimperngroßer Beine und gelben Safts verfolgen, wo der Scheibenwischer tote Insekten über das Glas gerieben hatte. Das richtete Regen im Sommer an – er verschmierte irgendwie nur alles.
»Tut mir leid wegen der Windschutzscheibe«, sagte Susan.
Archie antwortete nicht. Er sah auf die Karte in seiner Hand und dann zu dem Gebäude. »Das ist es«, sagte er.
»Welche Seite?«, fragte Susan. Das Doppelhaus mit dem Flachdach aus den 1980ern stand am Ende einer Sackgasse. Nichts an dem Ding stimmte. Die bunten Ziegel des Erdgeschosses passten nicht zu der grauen Kunststoffverkleidung des Obergeschosses. Es gab zwei Eingangstüren, eine grau, eine blau, jeweils mit einer Betontreppe davor. Die Treppe mit der grauen Tür war kahl, die vor der blauen war mit Pflanzen in Keramiktöpfen gesäumt. Zerschlissene buddhistische Gebetsfahnen flatterten am Geländer.
»4A«, sagte Archie.
Die blaue Tür.
Er schickte sich an auszusteigen.
»Warten Sie«, sagte Susan. »Haben Sie eine Waffe?«
Archie lächelte sie geduldig an. »Auf der psychiatrischen Station haben sie es nicht so mit Waffen«, sagte er. »Und meine Dienstwaffe habe ich abgegeben, als ich mich beurlauben ließ.«
»Dann besorgen Sie sich eine bei Wal-Mart oder so«, sagte Susan.
Archie zog die Augenbrauen in die Höhe.
»Schön«, sagte Susan. »Aber ich komme mit Ihnen. Irgendwer muss Sie davon abhalten, sich
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