Greywalker
Speedy’s? Man braucht nur fünf Minuten mit dem Auto, und wenn ihr euch beeilt, bekommt ihr noch einen Tisch.«
Ihr Gesicht blieb ausdruckslos, doch sie nickte. Will beschrieb mir wie man dorthin gelangte, und ich fuhr uns mit dem Wagen rüber.
Speedy’s war eine Art Lokal für Handwerker, das man durchaus auch als Spelunke oder Absteige bezeichnen konnte. Aber zumindest fanden wir wie erhofft einen Tisch und tranken Kaffee, während wir auf das Essen warteten. Nach mehreren Schlucken sehr stark gesüßten Kaffees nahm Ann Ingstrom zumindest ein wenig Farbe an.
»Dieser William ist ein netter Mann, nicht wahr?«, meinte sie mit ihrer dünnen Stimme.
»Ja, sehr nett. Ich hoffe, dass ich Ihnen nicht zu nahe trete, indem ich Sie so entführe …«
»Oh, nein. Im Gegenteil, es tut mir gut, weg zu kommen. Seitdem all das passiert ist, habe ich kaum einen Fuß aus der Lagerhalle gesetzt.« Ihre Stimme drohte zu brechen, aber sie versagte ihr nicht ganz. »Seitdem … Seit Chet und Tommy ertrunken sind. So – jetzt habe ich es gesagt, nicht wahr?«
»Ja, Mrs Ingstrom, das haben Sie. Es tut mir wirklich sehr leid«, murmelte ich. Es war ganz egal, wie oft ich schon in solchen Situationen gewesen war: Der Schmerz anderer Menschen war mir immer etwas peinlich, es kam mir immer so vor, als würde ich in ihre Privatsphäre eindringen.
»Nun«, fuhr sie fort und lehnte sich zurück, damit die Kellnerin das Essen auf den Tisch stellen konnte. »Fischer und Seeleute – das Meer nimmt sie uns. Und auf einmal kommen sie nicht wieder zurück. Aber man … man nimmt ja nie an, dass einem selbst so etwas einmal widerfahren könnte.«
»Es muss sehr schwer für Sie sein«, sagte ich.
Sie nickte. »Es ist schrecklich schwer. Aber Sie brauchen ja meine Hilfe. Worüber wollten Sie denn mit mir sprechen?«
»Ich bin auf der Suche nach einem Harmonium, das Ihre Firma in den späten siebziger oder frühen achtziger Jahren aus einem havarierten Schiff geborgen haben könnte. Erinnern Sie sich vielleicht an einen derartigen Vorfall?«
Sie kaute langsam und schluckte ihr Essen hinunter. Jedem Bissen folgte ein Schluck Kaffee. »Ein Harmonium. Ich glaube – ich weiß gar nicht mehr, wie es bei uns gelandet ist, aber wir hatten ein Harmonium in unserem Haus. Nicht sehr lange. Es war grauenvoll. Wir sind das fürchterliche Ding los geworden, als das Haus renoviert wurde. Das war 1986, glaube ich. Aber an das genaue Datum kann ich mich leider nicht erinnern. Es ist schon zu lange her.«
»Was ist mit ihm passiert?«
»Oh, das weiß ich wirklich nicht mehr. Chet hat sich darum gekümmert. Ich war nur froh, dass es endlich aus dem Haus war. Es hat mir stets ein … ein unbehagliches Gefühl bereitet. Das ist lächerlich, nicht wahr?«, meinte sie etwas beschämt. »Es hat gut funktioniert. Chet spielte einige Male darauf.« Sie schauderte. »Aber das alte Ding hörte sich für mich immer so an, als ob es kreischen und heulen würde.« Sie lachte. »Das ist natürlich dumm von mir, ich weiß. Vor einem Möbelstück Angst zu haben. Aber ich habe ihn nie gefragt, was mit dem Harmonium passiert ist.«
»Könnten Sie es herausfinden?«
»Nun … Es sollte noch irgendwelche Papiere geben. Ja, dann habe ich wenigstens etwas zu tun. Darf ich Sie anrufen, sobald ich etwas gefunden habe?«
»Das wäre sehr nett von Ihnen.« Ich suchte meine Visitenkarte heraus und schrieb meine Privatnummer auf die Rückseite, ehe ich sie ihr reichte. »Sie können mich jederzeit anrufen.«
Sie steckte die Karte in ihre Kostümjacke. »Vielen Dank, meine Liebe. Ich werde es Sie wissen lassen, sobald ich auf etwas gestoßen bin.«
Wir beendeten unser Mittagessen und fuhren dann zur Lagerhalle zurück.
Ich reichte ihr meine Hand, ehe ich sie zu Michael und den anderen Trauernden zurückbegleitete. »Noch einmal vielen Dank für Ihre Hilfe, Mrs Ingstrom.«
Diesmal ergriff sie meine Hand, als wären wir Komplizen. Sie lächelte, und ihr Gesicht wirkte auf einmal wesentlich lebendiger. »Ich werde mein Bestes tun«, flüsterte sie mir zu.
Ich kehrte auf die Auktionsfläche zurück. Der Auktionär war diesmal ein älterer Mann, der mich in seiner geschmeidigen Art an einen trägen Seelöwen erinnerte und leider auch nicht viel agiler wirkte. Er war von seiner Wichtigkeit derart überzeugt, dass er die Menge nicht aufzuheizen wusste und schlampig war. So verkaufte er ein schönes altes Mahagonipult viel zu schnell. Die Proteste der Bieter interessierten ihn
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