Greywalker
den genauen Standort oder auch die Summen, die auf den Auszügen vermerkt sind?«
Sie sah mich überrascht an. »Ich habe nicht daran gedacht, sie mitzubringen.«
Die Frau mir gegenüber wirkte auf mich alles andere als vergesslich oder zerstreut. Ich hätte wetten können, dass sie dem Vorstand von zwei oder drei Wohltätigkeitsorganisationen angehörte. Ein leichtes Zucken um ihren Mund und eine Andeutung von kleinen Fältchen deuteten darauf hin, dass sie beunruhigt war. Aber sie hatte sich sofort wieder im Griff.
»Wie lautet der volle Name Ihres Sohnes, Colleen?«
»Andrew Cameron Shadley. Aber er zieht es vor, mit seinem zweiten Namen angesprochen zu werden.« Sie griff in ihre Aktentasche und holte einen großen braunen Umschlag hervor. »Ich habe einige Photos für Sie mitgebracht. Eine Liste seiner Freunde und Verwandten ist auch dabei. Hoffentlich hilft Ihnen das etwas weiter.«
Ich nahm den Umschlag entgegen und zog zwei Photos sowie ein Blatt Papier heraus – von der dicken Sorte, die sich fast wie Baumwolle anfühlt und mindestens vierzig Dollar pro Karton kostet. Eine der Aufnahmen war offensichtlich in einem Photoatelier entstanden und zwanzig mal fünfundzwanzig Zentimeter groß; bei der anderen drehte es sich um einen ganz gewöhnlichen Schnappschuss.
Das Portrait zeigte einen strahlenden Engel im Stile der Präraffaeliten, der einen schwarzen Pullover mit rundem Ausschnitt trug. Seine langen goldblonden Haare hätten an die Löckchen von Shirley Temple erinnert, wenn sie nur bis zu seinen Schultern gefallen wären, während seine Augen tief violettblau und von dichten, dunkelblonden Wimpern umrahmt waren – ganz wie die Augen seiner Mutter. Wäre da nicht ein Hauch von einem blonden Schnurrbart gewesen, hätte man angenommen, dass es sich um ein Mädchen handelte.
Colleen zeigte auf das Photo. »Das stammt noch aus seiner High-School-Zeit, es wurde nach seinem Abschluss aufgenommen. Seitdem hat er etwas an Gewicht verloren. Diesen grauenhaften Schnurrbart gibt es immer noch, allerdings etwas breiter.« Sie seufzte. »Er war ein wirklich anbetungswürdiges Kind, was er selbstverständlich hasste.« Das kann man verstehen, dachte ich. »Das andere Photo wurde letztes Weihnachten gemacht. So sah er aus, als ich ihn das letzte Mal gesehen habe.«
Auf dem Photo standen Cameron und ein Mädchen neben einem offenen Kamin, der mit Girlanden und grün-rot kariertem Krepppapier geschmückt war. Sein Gesicht hatte den runden, engelhaften Ausdruck verloren und war nun schmaler geworden. Ein seidener blonder Schnurrbart bedeckte seine Oberlippe. Das lange Haar trug er in einem Pferdeschwanz. Sein Lächeln wirkte jetzt zurückhaltend. Das Mädchen neben ihm war in ungefähr dem gleichen Alter, schien aber gar nicht begeistert davon zu sein, dass man es photographierte. Ihre Haar waren rabenschwarz, ob sie jedoch gefärbt waren oder von Natur aus diese Farbe hatten, ließ sich auf dem kleinen Bild nicht feststellen. Sie kultivierte den modischen Gothic-Look. Inmitten der ganzen Weihnachtssachen wirkte sie wie eine von Halloween übrig gebliebene Hexe.
»Ist das Camerons Freundin?«, fragte ich Colleen.
»Oh, nein. Das ist Sarah, meine Tochter.« Ihre Lippen wurden etwas schmaler, ehe sie nach ihrem Kaffee griff und einen Schluck nahm.
»Glauben Sie, dass Sarah vielleicht wissen könnte, wo Cameron ist?«
»Es tut mir leid, aber das kann ich Ihnen leider nicht sagen. Wir sprechen nicht miteinander. Ich habe allerdings ihre Adresse auf die Liste geschrieben. Vielleicht haben Sie ja etwas mehr Glück mit ihr als ich.«
Auch ich nahm noch einen Schluck Kaffee, während ich die Liste und Sarahs Adresse darauf entdeckte. Die Liste an sich war kurz. Neben jedem Namen befand sich entweder der Vermerk »befreundet« oder »verwandt« und danach folgten die Adressen und Telefonnummern. Außer bei Sarah. Hier gab es nur eine Adresse.
»Ich wünschte, ich hätte mehr Informationen für Sie«, sagte Colleen. »Cameron war nicht oft zu Hause. Er war schon immer sehr eigenständig, aber nie rücksichtslos oder gar waghalsig. Wenn ich mal eine Weile nichts von ihm hörte, hatte ich immer angenommen, dass er viel zu tun hat, ob nun für die Uni oder für irgendein neues Projekt. Aber als er sich dann nicht einmal an seinem Geburtstag meldete, fing ich an, mir ernsthaft Sorgen zu machen. Normalerweise rief er mich da immer an. Er nimmt regen Anteil an unserem Familienleben, wissen Sie. Er ist ein guter Sohn.«
In
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