Greywalker
»Lassen Sie mich als Erstes einmal wiederholen, was Sie mir am Telefon erzählt haben. Ihr Sohn, Cameron, ist Student an der U-Dub hier in Seattle. Er ist seit kurzem verschwunden. Es sieht so aus, als ob er keine Vorlesungen besucht, keine Rechnungen gezahlt, aber regelmäßig Geld an Automaten in der Stadt gezogen hätte. Sie haben die Polizei alarmiert, haben aber nicht das Gefühl, aus dieser Richtung viel Hilfe erwarten zu können.«
Sie nickte. »Ganz genau. Wir haben ein gemeinsames Konto, auf das ich in regelmäßigen Abständen Geld überweise, um seine Kosten zu decken. Ich hatte nicht bemerkt, dass irgendetwas nicht stimmte, bis Camerons Vermieter mich anrief. Die Miete war einen Monat in Verzug, und da ich die Bürgschaft für meinen Sohn übernommen habe, kontaktierte er mich. Als ich kurz darauf Camerons Mitbewohner anrief, erklärte er, dass er meinen Sohn seit mindestens sechs Wochen nicht mehr zu Gesicht bekommen hätte. Er erzählte mir außerdem, dass Cameron krank gewesen sei, als er ihn das letzte Mal gesehen hatte. Ich erinnere mich auch, dass mein Sohn sehr bleich gewirkt hat, als wir uns das letzte Mal trafen. Angeblich hatte er eine schwere Erkältung. Das muss jetzt knapp sechs Wochen her sein.«
Ihre Geschichte wurde von der Bedienung unterbrochen, die mir meinen bestellten Kaffee brachte.
»Laut Richard – seinem Mitbewohner – hat Cameron kaum etwas mitgenommen«, fuhr Colleen fort. »Es hatte den Anschein, als ob er nicht lange fort sein würde. Leider habe ich Richard noch nicht aufgesucht, was ich vielleicht hätte tun sollen. Ich habe mir vorgemacht, dass Cameron sich austoben wollte und früher oder später wieder auftauchen würde. Dann kam der nächste Kontoauszug. Es waren keine Schecks ausgestellt worden und die einzigen Geldentnahmen stammten von irgendwelchen Automaten in Seattle.«
»Ist das nicht normal?«, wollte ich wissen.
»Nein, ganz und gar nicht. Er schreibt immer Schecks aus – egal, ob für Rechnungen, im Supermarkt oder für seine Kleidung. Bargeld hebt er nur ab, wenn er ausgehen möchte.«
»Ein gemeinsames Konto von einer Mutter und einem erwachsenen Sohn ist doch etwas ungewöhnlich, oder?«
Colleen winkte ab. »Es wurde schon vor langer Zeit eingerichtet. Als mein Mann starb, haben wir ein großzügiges Treuhandkonto für Cameron gegründet, das erst zugänglich wird, wenn er seinen Universitätsabschluss in der Tasche hat. Ich bin die Bevollmächtigte dieses Treuhandfonds und es schien einfacher, ein gemeinsames Konto zu eröffnen, auf das ich seine Lebenshaltungskosten überweisen konnte, als umständlich getrennte Konten zu haben. Als er älter wurde, bestand er nicht darauf, das zu ändern, da es problemlos funktionierte. Aus steuerlichen Gründen habe ich die Kontoauszüge immer aufgehoben.«
Sie runzelte die Stirn und ihre Maske aus teurem Makeup knitterte wie Papier. »Aber nun scheint es so, als ob er sein Studium abgebrochen hat. Als Treuhänderin muss ich herausfinden, ob das wirklich der Fall ist oder ob er nur ein Semester aussetzen möchte. Sein Handeln hat finanzielle Folgen, verstehen Sie? Selbstverständlich bin ich auch seine Mutter und möchte wissen, was mit ihm los ist. Diese Art von Benehmen ist so gar nicht typisch für Cameron.«
Ich nahm einen Schluck Kaffee. »Und wie viel Geld steckt in diesem Treuhandfond?«
Colleen zuckte nicht einmal mit der Wimper. »Knapp zwei Millionen Dollar.«
»Eine ansehnliche Summe.«
Sie zuckte mit den Schultern. »Daniel und ich wollten sicher gehen, dass es den Kindern einmal gut geht, falls uns etwas zustoßen sollte.«
»Und was geschieht nun mit dem Geld?«
»Falls Cameron wieder zur Uni geht und seinen Abschluss macht, wird er einen festgelegten Prozentsatz erhalten, damit er eine Basis für sein weiteres Leben hat. Der Rest wird zwischen mehreren Personen und diversen Wohltätigkeits- Organisationen aufgeteilt. Sollte er aber sein Studium nicht weiter verfolgen, verfällt sein Recht auf seinen Anteil und der gesamte Fonds wird unter den restlichen Parteien aufgeteilt.«
»Und wer ist das?«, wollte ich wissen.
»Nun, da bin ich, unsere Tochter Sarah, Daniels alter Geschäftspartner, seine zwei Brüder und eine Reihe von Wohltätigkeitsorganisationen.« Sie biss sich auf die Unterlippe und rutschte unruhig auf ihrem Stuhl hin und her.
Ich nickte und notierte alles in mein Notizbuch. »Okay. Jetzt zurück zu den Kontoauszügen«, fuhr ich fort. »Wissen Sie die Daten, Uhrzeiten,
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