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Greywalker

Greywalker

Titel: Greywalker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kat Richardson
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noch über der Stadt und Pioneer Square wirkte wie mit Wasserfarben gemalt, als ich mich in Richtung Bushaltestelle aufmachte. Es wäre dumm gewesen, mit dem Rover zu fahren, nur um sechs Blocks weiter Parkgebühren bezahlen zu dürfen.
    Als ich den Occidental Square überquerte, torkelte ein Mann aus einer kleinen Gasse auf mich zu. Er trug mehrere Schichten dunkler, zerfetzter Lumpen, aus denen kleine Wirbel in den Nebel um uns herum zu entweichen schienen.
    Als er näher kam, bemerkte ich, dass er etwas vor sich hinmurmelte. »Können Sie sehen? Können Sie sehen?« Dabei fuchtelte er wie ein Fremdenführer in der Luft herum, als ob er mir etwas zeigen wollte, wobei er mit der einen Hand etwas seltsam Formloses umklammerte.
    Ich konnte ihn deutlich riechen – ein Geruch, der an Schmutz und staubige Dachböden erinnerte. Ich starrte in den undurchdringlichen Dunst und wollte dem Mann ausweichen.
    Da packte er mich plötzlich am Oberarm. Entschlossen zog er mich an sich heran und reckte mir sein Gesicht entgegen. »Tote Lady? Sind Sie tot, verehrte Dame? Können Sie die sehen?« Wieder fuchtelte er mit der freien Hand hin und her. »Schauen Sie doch! Können Sie das sehen? Na? Können Sie sehen?«
    Ich entwand mich seinem Griff, indem ich meine Schulter nach unten drückte und den Kerl von mir stieß. Seine Kleidung fühlte sich seltsam warm und flauschig an und gab unter meiner Berührung nach. Er taumelte rückwärts und ich beeilte mich, etwas Abstand zwischen uns zu bringen.
    Sein Geruch hing mir noch immer in der Nase und ich schüttelte mich. »Ich denke, Sie sollten mir besser nicht zu nahe kommen«, warnte ich ihn.
    Er trat einen Schritt zurück und murmelte verstört: »Nein? Sie können nicht sehen? Wirklich nicht?«
    Um ihn endgültig loszuwerden, gab ich vor, ihn angreifen zu wollen, lehnte mich nach vorn und starrte ihn drohend an. Dann riss ich plötzlich die Arme hoch und spreizte die Finger.
    Er schien dies jedoch als Einladung zu verstehen und griff erneut nach mir. Ich brüllte ihn an und verpasste ihm eine schmetternde Ohrfeige.
    Der eigenartige Mann schrie kurz auf, drehte sich dann um und verschwand im Nebel, der ihn sofort verschluckte. Nichts blieb von ihm zurück als einige wirbelnde Strudel.
    Ich atmete tief durch und lief zitternd weiter zur Bushaltestelle.
    Ich war fünf Minuten zu spät – ganz wie es sich gehörte, auch wenn ich es hasste, mich comme-il-faut zu benehmen.
    Colleen Shadley erwartete mich in einer Espresso-Bar, die mit ihren Kirschholz getäfelten Wänden und den dunkelgrünen Sofas und Sesseln aus teurem Leder an einen exklusiven Klub erinnerte. Der Raum war voller Geschäftsleute, die um die polierten Tischchen saßen und sich in gedämpfter Lautstärke unterhielten.
    Ich entdeckte eine Frau, die alleine in der hinteren rechten Ecke saß, und ging auf sie zu. Sie blätterte planlos in einem Weinmagazin und schien darüber ihren Kaffee vergessen zu haben.
    Ihre hellbraunen Haare waren in einem weich fallenden Bob geschnitten. Sie reichten bis zum Kinn und endeten in einer sanften Welle. Die Frau trug ein seidenes Kleid im Audrey-Hepburn-Stil, doch an ihr wirkte es wie eine Rüstung. Neben ihrem Stuhl stand ein eleganter lederner Aktenkoffer.
    Ich blieb vor ihr stehen. »Mrs Shadley?«
    »Sie müssen Miss Blaine sein. Setzen Sie sich doch, bitte. Und nennen Sie mich Colleen.« Sie zeigte auf einen der Stühle, und während ich ihn heranzog, um mich zu setzen, beobachtete sie mich genau. Ich erwartete geradezu, für die Art und Weise wie ich mich niederließ benotet zu werden. »Sie sind zwar nicht so, wie ich mir das vorgestellt habe, aber Nan hat in den höchsten Tönen von Ihnen gesprochen.«
    Nanette Grover sprach nie in höchsten Tönen von jemandem. Ich arbeitete bereits seit zwei Jahren als Ermittlerin in juristischen Angelegenheiten für sie, und das Beste, was ich jemals zu hören bekommen hatte, war: »Das war gut.« Ich fragte mich, was sie wohl über mich gesagt haben mochte.
    Colleen fuhr fort: »Wo haben Sie sich das blaue Auge zugezogen?«
    »In einem mittlerweile abgeschlossenen Fall gab es gewisse Komplikationen. Ich kann Sie auch an einen weniger mitgenommen aussehenden Kollegen weiter vermitteln, wenn Ihnen das lieber wäre«, antwortete ich steif.
    Sie lächelte mich an. »Nein, das ist nicht nötig.« Dann gab sie mir zu verstehen, dass wir nun zum eigentlichen Grund unseres Treffens kommen sollten.
    Ich holte Notizbuch und Kugelschreiber hervor.

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