Grim - Das Siegel des Feuers
vermisst, nicht Lucas, den Maler und Verrückten, sondern ihren Vater, der nichts weiter war als das: ihr Vater.
Jakob. Seine Gestalt flammte vor ihr auf wie ein Licht am Ende des Ganges. Jakob war Geborgenheit für sie gewesen, Vertrauen und Nachhausekommen. Bei ihm hatte sie sich sicher gefühlt, fast wie ... Ja, fast wie bei Grim. Ärgerlich stieß sie die Luft aus. Das war ja nicht auszuhalten! Davon abgesehen, dass sie ihn quasi überhaupt nicht kannte, konnte er sie offensichtlich nicht besonders gut leiden. Und ging es ihr etwa anders? Er war mürrisch, unhöflich und obendrein ein Gargoyle — ein Schattenflügler, einer von jenen, die Jagd auf Hybriden wie Morl machten und jeden Menschen, der sich nach Ghrogonia verirrte, bei lebendigem Leib rösteten.
Ich habe ihn gesucht. Ich wollte ihn ... beschützen.
Seine Worte gingen wie ein Flüstern durch ihre Gedanken.
Sie erreichte eine schmale, helle Tür. Sie bestand weder aus Holz noch aus Eisen, und als Mia näher herantrat und die Hand auf die kunstvollen Verzierungen legte, stellte sie fest, dass sie aus Stein war, aus einem zarten, schimmernden Stein. Vorsichtig drückte sie die Klinke hinunter — auch sie war steinern und hatte die Form eines schlafenden Fuchses —, und sofort drang ihr dieser Duft in die Nase, den sie zum letzten Mal in Jakobs Wohnung wahrgenommen hatte, dieser Geruch von Staub, alten Büchern und Einsamkeit.
Mia betrat ein Zimmer mit hohen Fenstern, die die gesamte gegenüberliegende Wand einnahmen. Goldenes Licht schien dahinter so hell, dass es ihr für einen Moment so vorkam, als wäre es Tag geworden. Langsam trat sie näher. Vor der Fensterfront stand ein Schreibtisch, Bücher und Pergamentrollen lagen darauf herum, ein altertümliches Teleskop, mehrere Tintenfässchen und sogar eine Feder, die aussah, als hätte ihr Besitzer sie gerade erst in der Hand gehalten. Auch auf der Kommode neben dem Bett, das vielmehr einer Pritsche glich, standen und lagen Bücher herum, Bücher aller Farben und Größen, und Papier, Unmengen an Papier. In zarten, geschwungenen Buchstaben standen Notizen auf den Zetteln, die überall im Zimmer herumlagen, als wären sie schlafende Schmetterlinge. Sie bedeckten die Truhen neben der Tür und den großen, breitschultrigen Schrank, der wie ein Riese mit eingezogenem Kopf in einer Ecke stand.
Mia atmete ein. Die Luft war kühl wie in einer Gruft. Zaghaft ging sie zum Schreibtisch und strich mit den Fingern über die Lehne des klapprigen alten Stuhls, der davorstand. Wer mochte in diesem Zimmer gelebt haben? Es sah aus, als wäre sein Bewohner gerade erst zur Tür hinausgegangen. Es herrschte Unordnung, ein Leben unter einer Glasglocke, in der die Zeit stehen geblieben war. Nur die graue Bettdecke lag ordentlich gefaltet auf der Pritsche. Sie sah ohnehin so aus, als wäre sie nicht oft benutzt worden. Da hing ein Mantel über einem Kerzenständer, als hätte ihn jemand zum Trocknen aufgehängt, Bücher lagen aufgeschlagen auf dem Schreibtisch, und die Feder — ja, die Feder. Silbern glänzte sie an ihrem hölzernen Griff, die Spitze mit schwarzer Tinte besudelt, und deutete auf ein weißes Blatt Papier, auf dem sich in geschwungenen Lettern einige Sätze hinzogen. Mia beugte sich vor, um zu lesen, was dort stand, als ein Scharren sie zusammenzucken ließ. Erschrocken fuhr sie herum und sah direkt in Grims Gesicht.
Er stand in der Tür, nein, er stand schon im Zimmer, riesig wie eine Wolke aus schwarzem Gift, und starrte auf sie herab. Seine Brauen waren zusammengezogen, seine Klauen zu Fäusten geballt, und in seinen Augen flackerte ein Zorn, der Mia den Atem raubte.
»Raus hier«, zischte er. Seine Stimme zitterte vor Wut. »Verschwinde!« Sein Brüllen schlug ihr wie eine Faust ins Gesicht. Sie taumelte rückwärts. Irgendetwas griff nach ihrem Fuß, sie fiel. Ihr Kopf knallte gegen etwas Hartes, ihre Hände schürften über den Boden. In ihrem Kopf explodierte der Schmerz, er durchzog ihren Körper wie ein Peitschenhieb. Sie kam auf die Füße und wollte etwas sagen, aber in Grims Augen loderte nichts als Ablehnung und Wut.
Da wandte sie sich ab, rannte aus dem Zimmer und den Gang hinunter zum Fahrstuhl. Wahllos drückte sie auf den mittleren der metallenen Knöpfe, stellte sich in den Lichtkreis, wurde nach oben befördert und fand sich in einem schmalen Raum mit nur einer Tür wieder. Als wäre die Hölle hinter ihr her, riss sie die Tür auf und stand im nächsten Moment vor dem Turm Saint
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