Grim - Das Siegel des Feuers
Jacques. Sofort begann sie zu rennen. Sie musste weg, nur weg von hier, weg von den Fragen, auf die sie Antworten finden musste, und vor allem weg von diesem durchgedrehten Gargoyle, der sie vermutlich erschlagen hätte, wenn sie nicht geflohen wäre.
»Mia!«
Ehe sie sich umsehen konnte, flog Remis vor ihr Gesicht und breitete die Arme aus, als könnte er sie so aufhalten.
»Das musst du verstehen«, sagte er aufgeregt und schwirrte nach rechts und links, um ihr den Weg zu versperren. »Vermutlich wird er mich umbringen, wenn ich dir davon erzähle. Aber Grim ist den Menschen bei Weitem nicht so abgeneigt, wie er es gern hätte. Allerdings hat er sich erfolgreich gegen sie gewehrt, wie Gargoyles das eben tun sollten, immer — bis auf eine Ausnahme. Er hatte einen Freund, Monsieur Pite war sein Name. Die beiden hat etwas verbunden, das ... Nun, für einen Moorkobold ist das schwer zu begreifen. Jedenfalls war dieser Mensch der Einzige, den Grim ... was sagt ihr? Geliebt hat. Ja, so war es wohl. So ist es noch. Und nun bist du in Monsieur Pites Zimmer geraten, jenes Zimmer, das seit ... seit dem Ende niemand mehr betreten hat. Monsieur Pite, weißt du ... er ist tot.«
Mia spürte, wie sich ihre Kehle zusammenzog. Sie hatte es gleich gefühlt, schon als sie die Tür mit der Fuchsklinke gesehen hatte und die zarte schwarze Schrift auf all den Zetteln.
»Grim hat seine Kirche unter die Erde versetzen lassen«, fuhr Remis fort. »Und sein privates Zimmer. Er hat alles so gelassen, wie es war — seit damals.«
Mia begann zu zittern und räusperte sich ärgerlich. »Er konnte mich von Anfang an nicht leiden«, sagte sie. »Aber jetzt hasst er mich!«
Mit aufrichtiger Bestürzung sah Remis sie an. »Nein«, erwiderte er traurig. »Er hasst dich nicht. Er wehrt sich nur. Das muss er, verstehst du? Viel zu lange hat er das geübt. Er hat es perfektioniert, immer schon und noch mehr nach Pites Tod. Die Trauer um seinen Freund hätte ihn fast umgebracht, nie wieder wollte er danach einen Menschen in sein Leben lassen. Nun ist es doch passiert, und das ist für ihn eine sehr schwierige Situation. Denn gleichzeitig genießt er deine Nähe, selbst wenn du es mir vielleicht nicht glaubst. Er ist kein gewöhnlicher Gargoyle, Mia, das wirst du noch merken, auch wenn er selbst gern das Gegenteil behauptet. Er wird sich an dich gewöhnen. Du wirst schon sehen.«
Mia stieß die Luft aus. »Großartig! Und vielleicht schlägt er mir bis dahin ein klein wenig den Schädel ein, nicht wahr? Damit hat er doch Übung — als Schattenflügler! Er hasst die Menschen wie alle Gargoyles!«
Da lachte Remis auf. »Oh ja, er hasst sie so sehr, dass er sie rettet und dafür sogar wochenlange Drecksarbeit in Kauf nimmt.« Er holte tief Atem. »Es gibt tausend Möglichkeiten, um nach Ghrogonia zu kommen — unter anderem allerhand geheime Eingänge in den Katakomben von Paris. Vor einer Weile wurden ein paar davon von den Rebellen manipuliert, sodass drei Gargoyles und sieben andere Wesen darin umkamen bei dem Versuch, Ghrogonia zu betreten. Seitdem ist es streng verboten, sich in der Nähe der Öffnungen aufzuhalten, es sei denn, man geht rein oder raus — und Menschen ist es sowieso untersagt, wovon sie natürlich nichts wissen können, aber egal. Jedenfalls hat Grim einen Jungen gesehen, ein Kind ... weiß der Geier, was der Knabe in den Katakomben zu suchen hatte, vielleicht eine dämliche Mutprobe, was weiß ich, jedenfalls schaute er Grim dabei zu, wie dieser einen der Geheimgänge verließ. Grim hat seine Erinnerungen gelöscht und ihn laufen lassen, obwohl er ihn hätte ausliefern müssen. Aber dann wäre der junge ... Nun ja. Grim ist dabei gesehen und in den Streifendienst versetzt worden. Er hat gekocht vor Wut. Bis heute muss er sich die Gerüchte gefallen lassen, die wegen dieser Sache über ihn in Umlauf geraten sind — aber sein Handeln hat er nicht bereut, und ich bin sicher, dass er es immer wieder tun würde.« Er hielt kurz inne. »Du bist ein Hartid. Es steht im GBG — dem Gesetzbuch der Gargoyles —, dass jeder Hartid umgehend ausgeliefert und entweder hingerichtet oder einer kompletten Erinnerungslöschung unterzogen werden muss, was dem Ersten gleichkommt, denn hinterher sind die meisten ... dütdütdüt.« Remis tippte sich an die Stirn und verdrehte die Augen.
Mia zog die Brauen zusammen. »Dann hat er meinetwegen ein Gesetz gebrochen?«
Remis nickte. »Allerdings.« Dann wischte er mit der Hand durch die Luft.
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