Grim - Das Siegel des Feuers
Flur in ein abgedunkeltes Schlafzimmer.
»Mia«, hörte sie eine leise Stimme, und da erkannte sie ihre Mutter. Sie saß auf einem Stuhl am Fenster, eine Decke um ihre Beine gewickelt. Ihre Augen glänzten, als sie Mia in den Arm nahm, doch in ihrem Blick lag eine seltsame Ruhe. Für einen Augenblick hatte Mia keine Angst mehr, keine Fragen, nichts. Sie fühlte sich wie damals, als sie neben Jakob im Bett gelegen und einer von Lucas' Geschichten zugehört hatte, an deren Ende alles gut wurde. Dann wandte sie sich ab, und die Furcht kehrte zurück.
»Ich war in unserer Wohnung«, sagte sie heiser. Sie wollte noch mehr sagen, aber die Worte blieben ihr in der Kehle stecken.
»Ja«, sagte Josi beinahe unbekümmert. »Irgendwelche Monster haben sie verwüstet, wie es aussieht. Zum Glück konnten wir rechtzeitig entkommen.«
Mia starrte sie an, wie sie mit einem Lächeln auf dem Boden hockte und zu ihr aufsah. Langsam setzte sie sich aufs Bett. »Aber ... wie ...«, stammelte sie, doch Josi winkte ab.
»Wir hatten Glück, das ist alles«, sagte sie. »Falifar hatte immer schon ein Gespür für böse Schwingungen. Er hat sie kommen hören, nicht wahr, mein Lieber?«
Mia folgte Josis Blick. Der Vogel hockte zusammengekauert auf der Bettkante — und zum ersten Mal fiel ihr auf, aus welchem Grund Falifars Schnabel so schief aussah: Es war eine Maske. Sie sog die Luft ein, so überrascht war sie. Langsam bewegte Falifar die Beine und streifte lautlos seine Krallen ab. Zum Vorschein kamen dunkelblaue, haarige Füße. Er schüttelte sich und jetzt sah Mia auch seine Finger — er hatte eine rote und eine schwarze Hand mit schmalen goldenen Nägeln, die aus seinem Federkostüm herausschauten. Hinter der Maske blinzelten grüne Augen zu Mia herüber. Die weiße Haut um die Augen herum war vernarbt.
»Du bist eine Hartidin, nicht wahr?«, fragte Josi.
Mia zuckte zusammen, so entlarvt fühlte sie sich. Langsam nickte sie.
»Ich habe es mir gedacht. Als du vor ein paar Tagen in der Küche gesessen hast, war dieses Klingeln in der Luft. Lucas, weißt du ... er hatte immer das Klingeln im Haar, wenn er aus Ghrogonia zurückkam, genau wie Jakob. Ich habe gewusst, dass etwas vor sich ging, als du in der Küche gesessen und deiner Mutter Märchen über Jakobs Verschwinden erzählt hast. Deswegen habe ich den Zettel geschrieben. Ich wollte nicht, dass sie sich sorgt. Ich konnte ja nicht ahnen, dass alles so enden würde.« Sie schwieg einen Moment. »Ich habe eure Begabung nicht, leider. Aber als Lucas und ich Kinder waren, hat er mich mitgenommen auf die Wiesen, wo die Elfen tanzten, und zu den Seen, auf denen sich die Kobolde im Mondlicht sammelten. Ich habe sie nie gesehen. Aber ich habe sie gefühlt. Ich glaube, dass alle Menschen tief in sich diese Fähigkeit haben. Früher haben sie es noch viel stärker gespürt. Aber er ist immer noch da — dieser dunkle Punkt in uns, der die Sehnsucht kennt. Ich liebte diese Wesen, die ich nur mit geschlossenen Augen sehen konnte — in meiner Phantasie. Und eines Tages bin ich Falifar begegnet. Nach Lucas' Tod rettete er mir das Leben, und ich nahm ihn zum Dank bei mir auf. Vielleicht kann ich dir eines Tages unsere ganze Geschichte erzählen. Wir sind Freunde geworden, und obwohl ich ihn aufgrund des Zaubers des Vergessens niemals in seiner wahren Gestalt sehen werde, sind wir es bis heute geblieben.« Sie hielt kurz inne. »Ich habe nie mit Jakob über seine Begabung gesprochen. Ich wollte nicht, dass ... Lucas hat es zur Verzweiflung gebracht, dass ich nicht sehen konnte, was er sah, obwohl ich es fühlte. Jetzt wünschte ich, dass ich es getan hätte. Er war in Schwierigkeiten, nicht wahr?«
Mia holte tief Atem. »Ich würde euch so gern davon erzählen«, sagte sie leise. »Es ist alles so kompliziert und ... Jeder, der davon weiß, ist in großer Gefahr. Deswegen hat Jakob mich gebeten zu schweigen. Er hätte nicht gewollt, dass ich euch in diese Sache hineinziehe.« Noch während sie die Worte aussprach, wusste sie, dass sie das Richtige tat — und dennoch fiel es ihr unglaublich schwer. »Dabei bräuchte ich so dringend einen Rat. Immer wieder frage ich mich: Was hätte Jakob getan?«
Da stand ihre Mutter auf, setzte sich neben sie und nahm sie in den Arm. »Jakob ist nicht hier«, sagte sie leise. »Aber du — du bist hier. Diese ganze Geschichte ist so verrückt und beängstigend. Mit einem Schlag ist mein ganzes Leben durcheinander, ich habe die Kontrolle verloren —
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