Grim - Das Siegel des Feuers
brauchen — aber da hatte er die Rechnung ohne Mia gemacht. Alle paar Minuten hatte sie irgendwelche Bedürfnisse — so kam es ihm zumindest vor. Sie fror, sie musste mal, sie hatte Hunger ... Menschen! Dabei war es
sein
Rücken, der sich langsam, aber sicher in eine Quelle des Schmerzes verwandelte.
Er seufzte tief. Er durfte nicht ungerecht sein. Sie war nun einmal ein Mensch. Sie war schwach, und eigentlich konnte er von Glück reden, dass sie noch keine Mittelohrentzündung bekommen hatte oder eine Magen-Darm-Grippe oder wie die merkwürdigen Gebrechen der Menschen alle hießen. Und wenn er ehrlich war, lag seine miese Stimmung gar nicht an Mia.
Missmutig verzog er das Gesicht. Seit einigen Stunden hatte sich ein zäher Kopfschmerz hinter seiner Stirn eingenistet und machte es ihm zunehmend schwerer, ihn zu verdrängen. Grim wusste, was das bedeutete. Es waren die ersten Anzeichen dafür, dass er auf Entzug war — auf Traumentzug. Vergangenen Tag war er zwar wie üblich versteinert, aber der Schlaf war unfruchtbar geblieben, und am heutigen Abend hatte er sich wie gerädert gefühlt. Er kannte den Begriff
nuit blanche
aus dem Sprachgebrauch der Menschen — er beschrieb eine Nacht ohne Schlaf. Er hatte nie gewusst, wie er sich das hätte vorstellen sollen, schließlich versteinerte er im Morgengrauen von allein und wurde zwangsläufig ins Reich des Schlafs gezogen. Doch nun, da ihm die Träume fehlten, wusste er, was eine
nuit blanche
bedeutete: ständige Erkenntnis ohne die Gnade des Vergessens. Ihm war der Neuanfang genommen worden, der sonst mit jedem Erwachen gekommen war, das Gefühl, etwas Altes hinter sich zu lassen und etwas Neues zu beginnen. Es war, als müsste er sich und der Welt ununterbrochen ins Gesicht starren, ohne die Augen für einen Moment schließen zu können. Noch hatte er Reserven, von denen er zehren konnte. Aber wenn das so weiterging, würde er bald krank werden. Er konnte nur hoffen, dass Mourier in seiner Abwesenheit nicht untätig herumsaß, sondern tatsächlich alles daransetzte, um die Sammelstation wieder aufzubauen. Die paar Tage würde Grim problemlos überstehen, es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass er sich vor einem Besuch in der Sammelstation gedrückt hätte. Er seufzte tief. Verfluchte miese Gedanken! Dabei hatte er sich so auf den Flug gefreut, auf die Höhe, die er über Land erreichen, die Geschwindigkeit, mit der er dahinrasen konnte, und die Lichter, die unter ihm leuchten würden wie Sterne. Jetzt leuchtete gar nichts außer Remis, der ihm schon wieder mit seinen Haaren in die Nase stach.
»Verdammt noch mal!« Er packte den Kobold und warf ihn ein Stück voraus durch die Luft. Remis flog in mehreren Salti durch den Regen und wurde vor Empörung auf der Stelle knallrot. Sofort fühlte Grim sich besser.
Mit einem Quieken blieb Remis in der Luft stehen, fuhr herum und schoss mit wütendem Gesicht auf ihn zu. Fast hatte er ihn erreicht, als der Klang einer Fanfare ihn zusammenfahren ließ. Auch Grim hatte sich erschrocken, von Mia auf seinem Rücken ganz zu schweigen. Er kniff die Augen zusammen und sah, wie sich zwei Gestalten aus dem Regen schälten. Es waren geflügelte Gargoyles mit langen Gewändern. Sie trugen neben den Fanfaren Pfeil und Bogen und flogen direkt auf ihn zu.
»Ihr befindet euch im Luftraum der Stadt Rom«, rief ihnen die eine der Gestalten zu, und Grim erkannte erst jetzt, dass es sich um einen weiblichen Gargoyle mit langen, wehenden Haaren handelte. Sie hatte grüne Augen und richtete zielsicher ihren Pfeil auf seinen Hals. »Euer Kommen war nicht angemeldet. Wo ist euer Visum?«
Jetzt hatten sie ihn erreicht und sahen Mia. Grim sammelte seine Kräfte. Es war durchaus möglich, dass die Gargoyles Roms sich verändert hatten. Doch seine Befürchtung war unbegründet. Die Frau legte den Kopf schief, ein seltsamer Ausdruck trat in ihre Augen, und auch der andere Gargoyle, ein schmaler Jüngling mit lockigem Haar, schien in keinster Weise beunruhigt.
»Und was ist das?«, fragte er nur, fast so, als hätte Grim eine seltene Blume dabei und nicht ein Geschöpf, das von den Gargoyles seit Jahrhunderten gehasst und gefürchtet wurde.
Grim räusperte sich und legte eine Klaue auf Mias Arm, der sich wie ein Schraubstock um seine Kehle geschlossen hatte. »Sie ist ein Mensch«, sagte er. »Und sie steht unter meinem Schutz. Mein Name ist Grim. Ich bin Schattenflügler der OGP von Paris. Ich konnte mein Kommen nicht ankündigen, denn ich bin
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