Grim - Das Siegel des Feuers
selbst unfähig geworden sind, sich ihren Empfindungen hinzugeben. Ich bin anders als die Gargoyles in Paris. Ich gebe es nicht gern zu, aber es ist wahr: Ich folge meinen Gefühlen, auch wenn sich das für einen anständigen Gargoyle nicht gehört. Aber ich kann nicht anders. Was sind wir, wenn wir es verlernen, auf unsere Gefühle zu hören? Sie zeigen uns, dass wir lebendig sind, oder etwa nicht?«
Mia nickte an seinem Ohr. »Bist du deswegen fortgegangen?«, fragte sie. »Aus Italien, meine ich — weil du bist wie die Gargoyles hier?«
Er lächelte ein wenig. »Ich bin nicht wie sie. Wäre ich es, hätte ich bleiben können. Ghrogonia ist nicht ohne Grund meine Heimat geworden. Diese Stadt ist genauso zerrissen wie ich selbst. Aber dennoch hast du recht. Ich bin wegen der Sehnsucht fortgegangen. Vielleicht bin ich geflohen. Vielleicht bin ich ein Feigling.«
Er hörte Mia leise lachen. »Nein«, erwiderte sie kaum hörbar. »Sonst wärest du nicht hierher zurückgekehrt — mit einem Menschenkind auf deinem Rücken.«
Er fühlte, wie sie ihren Kopf auf seine Schulter legte. Ihr Haar war weich an seiner Wange.
Er flog dicht über den Häusern dahin, auch wenn es gefährlich war. Aber er wollte ihn riechen, den Duft der Uralten, die diese Stadt errichtet hatten, er wollte sie fühlen, die Wärme der roten Schindeldächer und den Glanz der Kuppeln, der sich wie Mondlicht auf seine Haut warf und ihn lächeln ließ. Es war unmöglich für ihn, keine Ehrfurcht zu empfinden, als er über die Gassen schwebte, und spätestens beim Anblick der dritten Kathedrale, die sich stolz in die Nacht erhob, spürte er, dass er diese Stadt vermisst hatte wie eine Freundin.
Unter ihnen schimmerte der Tiber wie ein Fluss aus Sturm. Ewigkeiten war es her, seit er das letzte Mal in dieser Stadt gewesen war — und natürlich hatte sie sich verändert. Ihr einstiges Gesicht war zerfallen und zerfressen, wie eine Theatermaske, die langsam zerbröckelt. Und doch war es noch immer da. Es schaute Grim an, durch jede zerfallene Ruine, durch jeden Atemzug, den die reglosen Gargoyles auf den Brunnen, den Palästen und Kirchen taten, es steckte in jedem Pflasterstein, in jedem winzigen Kiesel. Diese Stadt war die Welt, sie war die Ewigkeit, das fühlte er. Sie war es schon immer gewesen, und sie würde es immer sein.
Mit leisem Schwingenschlag landete er auf dem Palatin. Mia rutschte von seinem Rücken, sie stöhnte leise und streckte sich. Er hörte ihre Knochen knacken, offensichtlich war der Flug für sie nicht angenehmer gewesen als für ihn. Remis schwebte regungslos in der Luft, die Augen weit aufgerissen, und sah sich um. Grim sog die Luft ein. Es war, als ergösse sich ein Bilderstrom vergangener Zeiten in seine Lunge. So viel hatte sich verändert — und doch war manches geblieben von dem, was einst gewesen war. Um sie herum lagen die Ruinen früherer Gebäude, manche kaum noch als solche zu erkennen. Bäume rauschten im Wind, Unkraut hatte sich in Mauernischen eingenistet und seine Finger in die Steine gekrallt.
»Was tun wir hier?«, fragte Mia und zog die Arme um den Körper. »Ich dachte, wir suchen die Herzogin. Hier ist sie doch nicht. Hier ist gar nichts mehr.«
Grim lächelte. »Doch«, sagte er leise. »Sie ist hier. Sie sind alle hier.«
Lautlos murmelte er die Formel, und da erhoben sich die Gebäude, sie errichteten sich selbst wie von Zauberhand, Stein für Stein, Ziegel für Ziegel. Die Bäume und das Gestrüpp verschwanden, stattdessen entstanden breite Wege zu ihren Füßen, prächtige Bauten und stolze Tempel erhoben sich in die Nacht. Vor ihnen wuchs eine Stadt, die einmal gewesen war — und die es noch immer gab, verborgen und von keinem Menschen bemerkt.
»Was ist das?« Mia starrte mit weit aufgerissenen Augen auf das Schauspiel und begriff natürlich überhaupt nichts.
»Eine Illusion«, erwiderte Grim. »Das ist alles, was ihnen geblieben ist.«
Vor ihnen lag eine Straße. Breite Pflastersteine glänzten im Regen, deutlich hatten sich die Radspuren von Fuhrwerken in den Stein gegraben. Häuser standen zu beiden Seiten, allesamt prachtvoll und wie gerade erst gebaut. Zwischen den Säulen eines Tempels standen Gargoyles in langen Gewändern, sie unterhielten sich leise und musterten die Neuankömmlinge mit beiläufigen Blicken. An Mia blieben sie hängen, ein Aufatmen ging durch die Reihen.
»Keine Angst«, sagte Grim und legte ihr die Klaue auf die Schulter. »Sie werden dir nichts tun.«
Und damit
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