Grim - Das Siegel des Feuers
hatte er recht. Langsam gingen sie die Straße hinab und wurden von neugierigen Blicken begleitet, doch niemand belästigte sie.
»Es gibt sogar Garküchen«, sagte Mia und deutete auf ein ockerfarbenes Gebäude, in dem eine rundliche Gargoylefrau hinter einem steinernen Tresen duftende Gerichte zubereitete. Grim musste lachen.
»Du weißt so wenig, Menschenkind«, erwiderte er. Er hatte es spöttisch sagen wollen, aber stattdessen hatte es sanft geklungen, beinahe zärtlich. Prompt sah Mia ihn an und lächelte. Schnell wandte er sich ab. Verflucht, er musste sich zusammenreißen. Dieser ganze Vergangenheits- und Nostalgiequatsch machte ihn weich und sentimental — und genau das konnte er nicht brauchen. Mit düsterer Miene ging er an den Häusern vorbei, von denen jedes ihn beim Namen rief. Erst als Mia mit einem Laut des Staunens stehen blieb, sah er auf.
Vor ihnen lag ein gewaltiger Ziegelbau. Die roten Steine glühten im Mondlicht und der Portikus mit den riesigen Säulen erhob sich majestätisch in die Nacht. Erleichtert stieß Grim die Luft aus. Einst die Domus Augustana — nun der Sitz der Herzogin. Kaum hatte er einen Fuß auf die Treppe gesetzt, kamen zwei Wachtposten auf ihn zu. Es waren zwei Gargoyles, deren Augen zur Seite hin spitz zuliefen. Schwimmhäute lagen zwischen ihren Fingern, und ihr Mund war breit wie ein Fischmaul. Grim erkannte sie sofort als Angehörige des Clans der Aquaphilen. Freundlich neigten sie den Kopf, als er ihnen seinen Ausweis entgegenhielt, und lockerten ihren Griff um die Speere, die sie trugen.
»Ich erbitte Audienz bei Herzogin Vara«, sagte Grim und machte sich darauf gefasst, mindestens zehn unbequeme Fragen beantworten zu müssen. Doch die Wachen warfen nur einen kurzen Blick auf Mia und einen weiteren auf Remis, der sofort mitten in der Bewegung erstarrte und zu Boden fiel. Dann breitete einer der Wachtposten die Arme aus.
»Soeben kehrte Ihre Majestät aus den Thermen zurück. Bitte folgt mir«, sagte er freundlich.
Als Grim die Treppe hinaufstieg, merkte er, dass seine Klaue noch immer auf Mias Schulter lag. Er spürte, wie schnell ihr Atem ging, und konnte nachvollziehen, warum sie Angst hatte. Immerhin befand sie sich in einer Gargoylestadt und rechnete wohl trotz seiner Erklärungen über das Steinerne Volk Italiens damit, jeden Augenblick gevierteilt zu werden. Er ließ seine Klaue auf ihrer Schulter liegen und betrat hinter dem Wachtposten den Palast.
Sie standen in einem Atrium mit Säulengang und einem achtseitigen Wasserbecken, das von einem labyrinthartigen Muster geschmückt wurde. Vielfarbiger Marmor bedeckte den Boden, und die Wände waren mit Gemälden in leuchtenden Farben verziert — Blau, Grün und vor allem Rot in all seinen Schattierungen.
Grim atmete ein. Fast schien es ihm, als wäre Sonnenwärme in den Wänden gefangen. Er sah mythische Szenen, Theatermasken, Greifenvögel und menschliche Figuren, aber auch antike Götter wie Apollon und Kybele. Die Götter sahen ihn an, als wollten sie jeden Augenblick aus der Wand treten, und für einen Moment meinte er, den Schwingenschlag der Kraniche zu hören, die über einen blauen Himmel dahinzogen. Die gemalten Säulen und Fenster waren so kunstfertig gestaltet, dass er unauffällig die Klaue nach ihnen ausstreckte, da sie so echt aussahen. Schweigend folgten sie dem Wachtposten, und Grim konnte nicht aufhören zu lächeln. So war es früher gewesen. So etwas hatten die Menschen geschaffen, nicht ohne Hilfe, natürlich nicht — aber sie hatten es getan. Und heute? Was war aus den Menschen geworden?
Sie liefen durch eine gigantische Bibliothek mit reichen Stuckverzierungen und Wandnischen, in die sich Gargoyles mit Büchern und Schriftrollen zurückgezogen hatten. Mia murmelte etwas neben ihm, und als er sie ansah, glühten ihre Wangen. Er musste lächeln. So eine Bibliothek hatte sie bislang wahrscheinlich nicht einmal in ihren Träumen gesehen. Sie folgten dem Wachtposten über eine Treppe in den ersten Stock und erreichten ein kleines Zimmer. Geometrische Muster bedeckten die Wände, Scheinarchitekturen, die den Raum zu beeindruckender Größe weiteten und Grim das Gefühl gaben, in endlose Säulengänge zu schauen. Selbst die Decke war mit kunstvollen Malereien verziert, und marmorne Möbel schmückten das Zimmer, doch das alles verblasste vor dem Anblick, der sich ihm nun bot.
Vor dem Fenster stand eine Frau. Sie trug ein langes, helles Gewand, und ihre steinernen Haare waren kunstvoll
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