Grim - Das Siegel des Feuers
durch ihre Brust. Jakob hatte Nietzsche gemocht. Der Vampir blätterte um. Plötzlich verzog sich sein Mund zu einem Grinsen, und er lachte. Mia hielt den Atem an. Er lachte wie ein kleines Kind und gleichzeitig wie ein uralter Mann. Noch nie hatte sie jemanden auf diese Weise lachen hören.
»Die menschliche Psyche!«, rief er und klappte das Buch zu. »Kann es etwas Spannenderes geben?« Er sah auf, und sein Lächeln verstärkte sich. »Oh«, sagte er sanft, »ein Anschauungsobjekt.«
Mia wollte sich abwenden, aber sie konnte es nicht. Der Vampir sah sie an, und obwohl er lächelte, spürte sie die Dunkelheit hinter seinen Augen wie eisige Schleier auf ihrer Haut. Es war, als würde die menschliche Fassade sich über einem Abgrund spannen, dessen Finsternis jeden Sterblichen augenblicklich um den Verstand bringen konnte.
Langsam stand der Vampir auf, ohne sie aus den Augen zu lassen. Er war fast so groß wie Grim und bewegte sich wie ein Panther auf der Jagd. Da trat Grim vor.
»Lyskian«, sagte er.
Der Vampir wandte den Blick von Mia ab, und sie fühlte sich, als hätten sich zwei eiskalte Hände von ihren Wangen gelöst.
»Ist es ein Zufall, dich heute hier zu sehen?« Lyskian legte Grim zur Begrüßung die Hand auf den Arm, dann warf er einen Blick auf die Verletzung. »Oder soll ich dich verarzten?« Er beugte sich vor und sog die Luft ein. Angewidert verzog er das Gesicht. »Es sollte genügen, den Duft des menschlichen Blutes zu übertünchen«, sagte er schneidend. »Musst du auch noch Wolfsgestank in mein Haus bringen?«
Grim hob die Schultern. »Es ließ sich nicht vermeiden. Ich hatte einen kleinen Disput, bei dem nur sie mir weiterhelfen konnten.«
Lyskians Augen wurden schmal. »Nur sie, ja?«, flüsterte er. Seine Hände ballten sich zu Fäusten, Mia hörte, wie seine Knochen knackten. Für einen Moment schien es ihr, als würde sich die Haut von seinem Gesicht zurückziehen, und darunter lag nichts mehr als eine Fratze aus Hass. Dann kehrte das Lächeln auf seine Lippen zurück. Er griff in die Tasche seines Gehrocks, zog einen silbernen Fingerkuppenring hervor und stach ihn sich in die Handfläche. Sofort drang dunkles Blut aus der Wunde.
»Mein Lieber«, sagte er und legte Grim die blutende Hand auf die Brust, »so manch einer würde mich für verrückt halten. Ich verkehre mit Wolfsfreunden!« Er lachte, als hätte er einen urkomischen Witz erzählt, während sich die Wunde in Grims Fleisch schloss. »Aber so ist das nun einmal mit den Freunden — man toleriert ihre Schwächen und bewundert ihre Stärken, nicht wahr?«
Er sah Grim an, und Mia spürte, dass seine Worte keine Lüge waren. Er und Grim, sie schienen wirklich befreundet zu sein — verbunden durch ein Band, das jede äußere Hürde überwinden konnte. Lyskian zog seine Hand zurück, und Grim bewegte die Arme.
»Ich danke dir«, sagte er hörbar erleichtert. »Aber das war nicht der Grund, aus dem ich gekommen bin. Ich habe eine Frage, bei der nur du mir weiterhelfen kannst.«
Lyskian hob die Brauen. »Ist das so?« Er deutete auf die Sessel. »Nun, dann nehmt Platz. Doch bevor wir beginnen ...« Er hielt Mia die Hand hin. »Mein Name ist Lyskian, Prinz der Vampire von Paris. Und wer bist du?«
Seine Finger schlossen sich um Mias Hand, und sie hätte beinahe überrascht die Augen aufgerissen. Seine Hand war ganz warm, und etwas strömte durch seine Finger, das ihre Anspannung auflöste, als wäre sie nie vorhanden gewesen. Auf einmal fühlte sie sich so sicher wie noch nie zuvor in ihrem Leben, und sie konnte nicht mehr verstehen, wie sie vor diesem Wesen so etwas wie Angst hatte empfinden können. Da legte Grim dem Vampir die Hand auf die Schulter.
»Ihr Name ist Mia«, sagte er düster. »Und sie ist eine Freundin.«
Lyskian hob lächelnd die Brauen und ließ ihre Hand los. Mia empfand fast so etwas wie Ärger. Warum hatte Grim sich eingemischt? War sie ein kleines Kind? Missmutig setzte sie sich auf einen der Sessel und sah zu, wie Grim und Lyskian ebenfalls Platz nahmen. Remis ließ sich auf ihrer Armlehne nieder und beobachtete den Vampir mit Argusaugen.
»Es geht um Pheradin«, sagte Grim unumwunden. »Ich weiß, dass er zu den Freien gehörte, mehr noch, dass er ihr Anführer war. Ansonsten kenne ich nur die Legenden. Aber du ... du kanntest ihn, nicht wahr?«
Lyskian lehnte sich zurück und schlug die Beine übereinander. Das Lächeln war von seinem Gesicht verschwunden. Seine Hände lagen ruhig auf den Lehnen,
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