Grim - Das Siegel des Feuers
das niemals kommen wird. Es ist wie ein Fall ohne Aufkommen — wie ein Sterben ohne Tod.«
Das letzte Wort irrte wie ein Flüstern durch den Raum. Erstaunt sah Grim, dass die Herzogin Tränen in den Augen hatte. Tränen — Gargoyles weinten nicht, oder besser gesagt: Sie taten es so selten, dass es kaum ins Gewicht fiel.
»Aber manchmal«, fuhr Mia fort, »manchmal gibt es einen Weg in der Dunkelheit. Und wenn man ihn sieht — und möge er noch so gefährlich sein —, muss man ihn dann nicht gehen?«
Grim merkte, dass er den Atem anhielt. Jetzt trat die Herzogin vor, legte Mia die Hand an die Wange und fuhr mit sanfter Bewegung darüber. Dann lächelte sie. Wortlos ging sie zu ihrem Schreibtisch, nahm einen goldenen Schlüssel aus einer Schublade und verließ das Zimmer.
»Folgt mir, wenn ihr nach Thyros wollt«, sagte sie im Gehen.
Grim sah Mia an, sie war noch immer kreideweiß, aber auf ihren Lippen lag ein Lächeln. Schnell folgten sie der Herzogin die Treppe hinab und durch prunkvolle Räume, bis sie ein Peristyl erreichten. Auch hier befand sich ein Wasserbecken. In seiner Mitte erhob sich eine Insel mit einem Tempel, der über eine kleine Brücke erreicht werden konnte.
Die Herzogin wartete, bis zwei Gargoyles an ihnen vorübergeschritten waren. Dann eilte sie über die Brücke und blieb auf einem kunstvollen Mosaik stehen. Als Grim und Mia neben ihr standen, verneigte sie sich vor der regungslosen Frauenstatue im Tempel, steckte den Schlüssel in einen Spalt zu ihren Füßen — und schon senkte sich das Mosaik in den Boden. Sie schwebten abwärts und standen kurz darauf in einer wunderschönen Grotte. Grim hielt den Atem an. Das Lupercal — die Höhle von Romulus und Remus. Nach dem Gründungsmythos Roms, den die Menschen sich erzählten, wurden die Zwillinge dort von der Wölfin gesäugt, bevor sie im Jahr 753 vor Christus die Stadt gründeten.
Doch das war lange her. Seit Urzeiten war kein Mensch mehr hier gewesen, das konnte Grim riechen, und die Luft war alt hier unten, sehr alt. Das Gewölbe war reich mit Muscheln und Mosaiken verziert und schimmerte sanft, als die Herzogin ein Licht in ihrer Hand entfachte. Sie trat zu einer weißen Muschelscherbe und fuhr mit der Hand darüber. Sofort öffnete sich ein Portal in der Wand. Grim kniff die Augen zusammen, doch dahinter sah er nichts als Dunkelheit.
»Geht«, sagte die Herzogin leise. Sie ließ das Licht, das sie geschaffen hatte, auf Mias Handfläche gleiten. Es beschien das Gesicht der Herzogin, als würde es mit Gold bestäubt.
Angespannt trat Grim hinter Mia durch das Portal. Hinter sich hörte er die Stimme der Herzogin: »Möge der Weg euch bringen, was ihr sucht.«
Dann schloss sich die Tür, und sie waren allein.
Kapitel 28
as Licht in Mias Hand beleuchtete einen schmalen Korridor. Einfache Nischen waren zu beiden Seiten in den Tuff gehauen. Sie stapelten sich übereinander und waren teilweise mit Marmorplatten verschlossen. In anderen lag feiner brauner Staub wie flockiges Mehl.
»Nicht nur Paris ist unterhöhlt wie ein Schweizer Käse«, sagte Grim leise, »sondern auch Rom. Ein Geflecht aus Gängen und Tunneln von mehreren Hundert Kilometern Länge erstreckt sich unterhalb dieser Stadt — und der größte Teil ist unerforscht.«
Mia räusperte sich und erschrak. Ihre Stimme hatte allen Klang verloren. Jeder Nachhall, jeder Ton wurde sofort von den dunklen Wandnischen aufgesogen. Misstrauisch besah sie sich die Öffnungen genauer und entdeckte ein helles Holzstück, das in einer der Kammern lag. Sie hatte schon die Hand ausgestreckt, als sie erkannte, dass es keineswegs Holz war: Es war ein Knochen. Mia wich zurück.
Remis schwirrte in die Mitte des Ganges und schaute von links nach rechts, als befürchtete er, dass etwas aus der Dunkelheit schnellen und ihn packen könnte. »Wir sind in den Katakomben«, flüsterte er. »Die Menschen haben sie lange Zeit als Friedhöfe benutzt ... Heiden, Juden, Christen ...«
Grim trat einen Schritt vor. »Und sie haben Spuren hinterlassen.«
Prüfend ließ er seinen Blick über die Wände wandern. Mia zog die Schultern an. Ihr kam es vor, als würden die unsichtbaren Toten nur darauf warten, etwas Lebendiges in die Finger zu bekommen — und wenn es nur eine Stimme war.
Grim deutete auf ein seltsames Zeichen an der Wand. Es zeigte einen Fisch. »Christen«, murmelte er. »Aber nicht nur ihre Spuren finden sich in diesen Gängen. Er fuhr mit den Fingern über den Fisch, ohne ihn zu
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