Grim - Das Siegel des Feuers
geben. Er sah zu, wie Mourier von seinem Thron sprang und sich durch das Gewirr der Gargoyles einen Weg bahnte.
»Worauf wartest du?«, rief der Löwe, als er am Eingang der Höhle angekommen war. »Brauchst du ein Kostüm aus Seide und Tüll, um mir zu folgen?«
Ohne ein weiteres Wort sprang er die Treppe hinauf. Grim warf Karphyr einen düsteren Blick zu. »Wenigstens vorwarnen hättest du mich können«, grollte er, doch der Drache lachte nur.
»Und mir den Spaß über dein Gesicht verderben, als der Kojote umzingelt wurde? Nie im Leben!«
Schnaufend ließ Grim den Drachen stehen und folgte Mourier nach oben. Wortlos schlichen sie nebeneinander durch die Straßen, bis der Löwe vor Thorons Privatpalast stehen blieb. Einst war es ein prunkvolles Gebäude gewesen, doch nach Seraphins Überfall war es kaum mehr als eine Ruine. Mit einer Kralle schob Mourier die Tür auf. Dämmerlicht fiel ihnen entgegen. Grim trat ein und zog die Tür hinter sich ins Schloss.
Sie befanden sich in einer mächtigen Eingangshalle. Eine Treppe lief geschwungen auf eine Empore, und das flackernde Licht leuchtender Steine brach sich in den gesplitterten Fenstern. Ein- oder zweimal war Grim hier gewesen, als Thoron die gesamte OGP zu irgendwelchen Festlichkeiten eingeladen hatte. Doch nun, da er an den Würdenträgern der Eliteeinheit und anderen Helden aus der frühesten gargoylschen Vergangenheit vorbeiging — sie hingen allesamt in Öl gebannt über der Treppe —, fühlte er zum ersten Mal so etwas wie Ehrfurcht. Einige dieser Schattenflügler hatten große Dinge geleistet, Igramasul beispielsweise, der der verrückten Schlange Ogryn alle neun Köpfe abschlug, ehe sie des Königs Tochter fressen konnte. Und was war er selbst dagegen? Ein mickriger Gargoyle, noch dazu gekündigt, einer, dem eigentlich ständig alles misslang, zumindest in letzter Zeit. Ein Gargoyle, den die Welt nicht brauchte.
Wütend stampfte er hinter Mourier die Treppe hoch. Nervtötend, dieses Gejammer! Er musste dringend damit aufhören. Positiv denken. Dieser Satz ging ihm noch mehr auf die Nerven, und so hatte sein Gesicht einen Ausdruck wie bei heftigen Bauchschmerzen angenommen, als sie vor einer breiten Tür stehen blieben. Mourier warf ihm einen Blick zu, als wollte er überprüfen, dass er auch anständig gekleidet war. Gerade wollte Grim ihm mitteilen, dass seine Frisur ihn mehr an einen aufgeweichten Pudel als an einen steinernen Löwen erinnerte, als Mourier sich abwandte und die Tür aufstieß.
Im ersten Moment erkannte Grim nur die Trümmer. Ein zusammengebrochener Thron, zersplitterte Fenster, deren Scherben im Licht schimmerten wie Tau oder Raureif, ein teilweise zusammengebrochenes Dach. Dann sah er den König — und erschrak.
Er hatte Thoron in seinem Leben oft gesehen, und immer hatte ihn bei seinem Anblick so etwas wie Respekt ergriffen. Bis ins Detail erinnerte Grim sich an seine Ernennung zum Schattenflügler, bei der Thoron ihm das Zeichen der OGP an die Brust geheftet hatte. Der König hatte ihm Respekt eingeflößt mit seinem glühenden Blick, der funkelnden, marmorweißen Haut und den Nägeln aus schimmerndem Perlmutt. Thoron war die Stärke der Gargoyles gewesen, seit eh und je — niemals hatte Grim daran gezweifelt. Doch nun war der König nicht wiederzuerkennen. Zusammengesunken saß er auf seinem Thron, beschienen vom fahlen Licht des grünen Schutzschildes um den Dorn. Er trug noch immer die Krone, aber sie saß schief auf seinem Kopf, und seine Hände lagen so reglos auf den Lehnen, dass es fast aussah, als sei er für immer erstarrt.
Mit zusammengezogenen Brauen folgte Grim Mourier, der über knirschende Fensterscherben lief, und blieb kurz vor Thoron stehen.
»Mein König«, sagte der Löwe und verbeugte sich. Auch Grim neigte den Kopf. Nie war es ihm falsch vorgekommen, bis zu diesem Moment.
Der König sah auf, er musterte sie und schien sie erst nach einer Weile zu erkennen.
»Ah«, machte er, ohne sich zu rühren. »Neues?«
»In der Tat, mein König. Es gibt Bewegungen, die das Blatt wenden könnten«, sagte Mourier. Er warf Grim einen Blick zu. »Der stärkste unserer Schattenflügler ist zurückgekehrt.«
Thoron sah ihn an, seine Augen waren nicht mehr klar und blau, sondern matt, wie gebrochen. Grim räusperte sich. Angespannt erwartete er eine Reaktion, doch selbst, als Mourier ihre Pläne umrissen hatte, regte der König sich eine ganze Weile gar nicht.
Vielleicht ist er auch schon krank,
schoss es Grim
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