Grim
grinste. »Keine Sorge, wir können gern jede Nacht einen kleinen Flug unternehmen, damit du nicht aus der Übung kommst. Vielleicht solltest du kurz ein Foto von dir machen und es Rosalie schicken, ich bin mir sicher, dass sie sich darüber freuen wird. Oder wirst du dann vom Pfad der Grünen Faust ausgeschlossen und musst stattdessen in den Klub der Rotnasen eintreten?«
Remis schnaubte verächtlich, doch ehe er etwas erwidern konnte, hielt die Kutsche vor dem Friedhofstor. Edwin fiel als Erster aus der Tür, und das buchstäblich. Seine Gesichtsfarbe hatte sich der von Remis angenähert, und er wurde nur vom Schnauben der Pferde dazu gebracht, sich von der Kutsche zu lösen und auf Grim zuzuwanken. Wortlos legte dieser ihm die Klaue in den Nacken und schickte einen Wärmehauch durch seine Glieder, woraufhin der Junge dankbar lächelte. Radvina hätte mit ihrer wachsbleichen Miene und dem schmutzigen Kostüm gut das erste Opfer in einem drittklassigen Horrorfilm abgeben können, und selbst Jaro, offenkundig darum bemüht, sich nichts anmerken zu lassen, war ein wenig blass um die Nase. Mia streckte sich erleichtert, als sie die Kutsche verließ, und Lyskian streifte Grim mit einem höhnischen Blick, sagte jedoch nichts.
Lautlos sprang Samhur auf die Straße. Er öffnete das Tor, ohne sich um das Vorhängeschloss zu kümmern, das wie von selbst plötzlich zu glühen begann und als geschmolzener Klumpen zu Boden fiel, und betrat den Friedhof. Er war nicht sonderlich groß, einzelne Grabsteine warfen ihre Schatten über das Gras, und am Ende des Weges erhob sich eine kleine Kapelle. Es war ein gewöhnlicher Friedhof der Menschen, von denen Grim bereits unzählige gesehen hatte.
»Du irrst dich«, sagte Samhur und lächelte auf eine stille und zugleich spöttische Art.
Grim seufzte. Er hätte es sich denken können, dass dieser Blutsauger sich nicht um Höflichkeit und Etikette scherte und wie er lustig war in fremder Leute Gedanken herumstöberte. Rasch zog er die Mauer höher, doch Samhur schien dies nicht zu kümmern.
»Dieser Ort ist etwas Besonderes«, sagte er. »Nach den Legenden der Menschen sandte König Ottokar II . einst einen Abt des Zisterzienser-Klosters Sedletz nach Jerusalem, der nach seiner Rückkehr auf diesem Friedhof eine Handvoll Erde vom Kalvarienberg verstreute.«
Radvina riss die Augen auf. »Die Hinrichtungsstätte Jesu Christi«, flüsterte sie, und plötzlich konnte Grim sie sich vorstellen, wie sie auf Knien in irgendeiner gottverlassenen Kirche herumhockte und für lächerliche Sünden einen Rosenkranz betete. Er hatte für den Glauben der Menschen noch nie viel übriggehabt – selbst Monsieur Pité hatte daran nichts ändern können.
Samhur sah ihn an. »Ich habe den Glauben der Sterblichen nie verstanden«, stellte er fest und es klang zu gleichen Teilen Verachtung und Sehnsucht in seinen Worten mit. »Vielleicht muss man wahrhaftig ein Mensch sein, um ihm folgen zu können.«
Grim erwiderte seinen Blick und meinte, etwas Sanftes darin erkennen zu können.
»Wie dem auch sei«, fuhr Samhur fort. »Der Grund dieses Friedhofs wurde zu heiligem Boden erklärt, und ich kann den Glauben an diese Worte spüren – in dieser Erde, in der Luft über den Gräbern, in jedem zerbrochenen Stein. Ich war noch auf keinem anderen Friedhof – und ich habe viele besucht – , auf dem die Stimmen der Toten so deutlich vom Gesang des Windes getragen werden.«
Grim zog die Brauen zusammen. Er war gern auf Friedhöfen, er mochte ihre Ruhe, die Geschichten, die die Gräber erzählten, und er liebte die großen Totenstädte von Paris wie den Cimetière Père Lachaise mit seinen verwinkelten Gassen, den Totenhäusern und den Gargoyles auf den Dächern. Er wusste, dass der Friedhof einer Stadt ihrem Herzen am nächsten kam, und nun, da Samhur die Handflächen nach vorn drehte und den Blick in die Schatten richtete, schien der Wind für einen Moment kälter zu werden. Er trieb das Laub über den Weg und ließ es wispern, und plötzlich hörte Grim die Stimmen, die lieblichen und zugleich unendlich traurigen Gesänge der Nacht über den Gräbern der Menschen.
Samhur trat auf das Tor zu, das in die Kapelle führte. Er öffnete es einen Spaltbreit, doch dann hielt er inne, als wäre ihm etwas eingefallen, und er wandte sich um. Grim nahm den abgestandenen Geruch wahr, er spürte den Frost, der über seine Glieder zog, als er in die Finsternis hinter der Tür schaute, und er hörte, dass die Stimmen
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