Grim
ein eisiges Meer anfühlte. Er flog schnell, und das nicht nur, weil ihm verdammt kalt war und Remis ihm seine froststarrenden Haare ins Ohr stach. Aus irgendeinem ihm unverständlichen Grund hatte Samhur beschlossen, mitten in der Nacht zum Friedhof von Kutná Hora aufzubrechen, der ein ganzes Stück außerhalb von Prag lag, und während die anderen mit einer der Höllenkutschen der Vampire fuhren, hatte Grim es vorgezogen zu fliegen. Er lächelte ein wenig, als er daran dachte, wie sie die drei Hartide eingesammelt und diese mit großen Augen auf die Kutsche und die rotäugigen Pferde gestarrt hatten. Selbst Jaro, der seit seinem Arrest auf dem Friedhof noch mürrischer war als zuvor, war beim ersten Schnauben zusammengefahren. Grim konnte es ihm nicht verdenken. Er hatte sich nicht umsonst für einen Flug entschieden. Die Kutsche glitt unter ihm dahin wie ein Schatten, doch kaum, dass die Lichter Kutná Horas durch die Dunkelheit brachen, legte er die Schwingen an den Körper und beschleunigte seinen Flug, um der Kutsche zuvorzukommen. Schlimm genug, dass er mit zwei Blutsaugern auf Abenteuerreise gehen musste. Er würde es nicht ertragen, für den Rest seines Lebens Lyskians Spott hinsichtlich seiner Flugkünste zu ertragen.
Schon nach wenigen Augenblicken stellte er befriedigt fest, dass die Kutsche hinter ihm zurückgeblieben war, und nahm ansonsten nichts wahr als tiefschwarze Nacht. Anfangs hatte er damit gerechnet, dass die Schergen des Lords ihnen nachkommen würden, doch offensichtlich hatte Samhur recht behalten.
Er wird uns nicht folgen , hatte der Jäger gesagt, als Mia ihn im Park des Schlosses auf Bhragan Nha’sul angesprochen hatte. Er würde es nicht wagen.
Dann hatte er den Friedhof zu ihrem Ziel erklärt und jede Nachfrage in rätselhaftem Schweigen ertränkt. Grim seufzte. Der Kerl war kaum redseliger als ein Kiesel, am liebsten hätte er sein Wissen aus ihm herausgeschüttelt. Aber er war auch ein Krieger, ein Jäger der Fünf und ein uralter Blutsauger. Bhragan Nha’sul hatte versucht, ihn zu binden, und der Rhak’ Hontay hatte sich mit Leichtigkeit befreit – von ihm, dem mächtigsten Vampir, den Grim bisher kennengelernt hatte. Nein, dieser Jäger befolgte nur seine eigenen Gesetze, daran bestand kein Zweifel. Es wäre nicht ratsam, ihn gegen seinen Willen zu irgendetwas bewegen zu wollen.
Als wenn er da der Einzige wäre , hallte Remis’ Stimme durch Grims Gedanken, und er widerstand nur schwer der Versuchung, den Kobold in herzerfrischenden Salti durch die Luft zu katapultieren. Stattdessen sperrte er ihn aus seinen Gedanken und dachte daran, wie der Jäger ihn angesehen hatte am Ufer der Moldau. Er schaute noch einmal in die undurchdringliche Finsternis, die hinter dem kalten Blau von Samhurs Augen lag. In ihr hatte keine Anklage gelegen angesichts der halb verbrannten Meerwesen und keine Furcht vor dem, was er werden konnte. Wie der Tänzer auf dem Seil hatte sie stattdessen das Brennen in seiner Brust geschürt, bis es die Kälte durchdrungen hatte, die seit dem Kampf gegen den Wassermann wie ein lähmendes Gift in seinen Gliedern steckte. Sie warf das Spiel aus Licht und Schatten zurück, das Grim so gut kannte, und forderte ihn auf, den Tanz selbst zu wagen, der mit tödlicher Verführung nach ihm rief. Gefahr lag in den Augen des Vampirs, Grim nahm sie mit jeder Faser seines Körpers wahr, und doch spürte er den unerklärlichen Drang, ihr zu folgen – zu tanzen in der Nacht, die er war.
Mit düsterer Miene drängte er diese Gedanken zurück. Verflucht, was war los mit ihm? Seit wann ließ er sich von einem Blick in blaue Augen aus dem Konzept bringen? Samhur war ein Rhak’ Hontay, der Finsternisse durchschritten hatte, von denen er selbst keine Vorstellung hatte, aber er war auch unberechenbar und hatte einen seiner engsten Freunde ermordet. Er begleitete sie nur zu einem einzigen Zweck: um Verus zu bezwingen.
»Ich bin ein Kobold und keine Wetterfahne«, krächzte Remis empört, als sie vor den Toren des Friedhofs landeten. Mit steifen Gliedern erhob er sich in die Luft, und Grim musste lachen, als er ihn ansah. Seine Haare standen wild aufgeplustert vom Kopf ab, seine Nase hatte eine leuchtend rote Färbung angenommen, und seine Brauen waren von Raureif überzogen, als hätte man ihn Kopf zuerst in einen Bottich Puderzucker getaucht.
»Wenn man dich so anschaut, könnte man meinen, du wolltest dich für den Job als Weihnachtswichtel bewerben«, stellte er fest und
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