Grim
lauter wurden und dann, in einem sehnsuchtsvollen Seufzen, plötzlich verklangen. Die Stille, die darauf folgte, war von tiefer Beklommenheit, und das belustigte Flackern in Samhurs Augen machte es nicht besser.
»Heiliger Boden ist nicht mehr als ein Wort«, raunte er und ließ seine Reißzähne sehen, eine Geste, die Grim vorkam, als hätte der Jäger auf eines der Gräber gespuckt. »Wie alles, dem man keine Bedeutung gibt. Doch immer schon entfalteten gerade Worte dieser Art – Begriffe, deren Sinn keiner wirklich verstand – , eine starke Anziehung auf die Menschen. Kaum war das Gerücht des heiligen Bodens in Umlauf gebracht worden, wollten sich viele Sterbliche hier bestatten lassen. Der Friedhof musste ständig erweitert werden, auch aufgrund der Pestepidemien im vierzehnten und der Hussitenkriege im fünfzehnten Jahrhundert, die mehrere tausend Opfer forderten.« Er lächelte kaum merklich. »Wir wissen, welches Unheil tatsächlich hinter der Pest steckte, aber das ist jetzt ohne Belang. An dieser Stelle wurde eine Kirche errichtet und die Überreste der Toten wurden exhumiert und im Untergeschoss des Gebäudes eingelagert, das seither als Beinhaus genutzt wurde.«
Kaum hatte er geendet, drang ein Lachen hinter ihm aus der Finsternis und Remis sauste so schnell auf Grims Schulter, dass sich seine Landung anfühlte wie ein Faustschlag. Samhur neigte kaum merklich den Kopf, er stand da wie ein Wächter zwischen Licht und Dunkelheit.
»Die Sterblichen erzählen sich die Legende von einem halbblinden Mönch«, sagte er. »Er soll die Ausgrabungen durchgeführt und die Gebeine von rund vierzigtausend Menschen systematisch im Ossarium niedergelegt haben. Im neunzehnten Jahrhundert wurde das Innere des Beinhauses von einem Holzschnitzer umgestaltet. Allerdings diente nicht Holz als Baumaterial, sondern … Nun, seht selbst.«
Mit diesen Worten verschwand er im Inneren der Kapelle. Grim folgte ihm mit den anderen. Schemenhaft konnte er eine Treppe erkennen, die in ein unterirdisches Gewölbe führte. Glutrote Fackeln entfachten sich an den Wänden, auf beiden Seiten des Treppenabgangs standen zwei fast menschengroße Abendmahlskelche, doch ehe Grim sie genauer betrachten konnte, hustete Remis heiser.
»Knochen«, flüsterte er.
Und der Kobold hatte recht. Neben den aus Knochen und Schädeln gebildeten Kelchen sah Grim ein Jesus-Monogramm aus demselben Material, und kaum, dass er das Ende der Treppe erreicht hatte, stockte ihm für einen Moment der Atem. Girlanden aus Totenköpfen, Oberarmknochen und Schienbeinen zierten die gewölbten Decken, und ein achtarmiger Lüster schien sämtliche Knochen des menschlichen Körpers in sich zu vereinen. Vier Fialen standen unter ihm, bestückt mit Dutzenden von Schädeln, und in den Nebenräumen erhoben sich vier konisch angehäufte, gigantische Knochenberge. Drei Schädel lagen inmitten glänzender Münzen, als wollten die Menschen sie auf diese Weise gnädig stimmen, und Grim fand an zahlreichen Knochen die Spuren früherer Gefechte, Einkerbungen, die von Dreschflegeln oder Fausthämmern stammten. Ein Altar mit Kruzifix lag gegenüber der Treppe, und als das Mondlicht durch das Fenster dahinter brach, warf sich der Schatten der Jesusfigur in den Raum. Samhur ging lautlos durch das Gewölbe und kaum, dass er die Kerzen an den Wänden und auf dem Leuchter passierte, entfachten sie sich mit leisem Zischen. Vor dem Altar blieb er stehen. Der Schatten legte sich über ihn, und Grim fand eine seltsame Anspannung auf seinen Zügen, als er den Blick hob und dem Sohn Gottes ins Gesicht schaute. Fast schien es, als würde dessen Schatten sich in schwarzer Glut in seine Haut brennen.
»Seht euch das an«, murmelte Jaro und zog Grims Aufmerksamkeit auf sich. Der Hartid deutete auf ein kunstvoll zusammengestelltes Wappen, das vor einem der Knochenberge hing.
Lyskian trat näher heran. »Es ist das Wappen der Familie Schwarzenberg«, sagte er. »Sie gab dem Holzschnitzer einst den Auftrag zur Umgestaltung dieses Hauses. Seht ihr den Raben? Selbst er wurde aus menschlichen Knochen gestaltet. Der Umstand, dass er einem Schädel das linke Auge aushackt, ist eine Anspielung auf die Kämpfe mit den Osmanen im sechzehnten Jahrhundert.«
»Allerliebst«, murmelte Grim düster.
Mia ließ den Blick mit einer Mischung aus Befremden und Faszination über die Knochen gleiten. »Die Christen haben sich hier bestatten lassen, um Jesus näher zu sein.«
Da lachte Samhur auf. Es war ein
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