Grim
Staub die Menschen nicht fliegen ließe, wenn sie ihn bemerken würden? Sie hätte über diesen Gedanken gelächelt, wenn sie nicht die Kälte gefühlt hätte, die nun langsam über den Platz kroch. Sie zog die Schultern an, als die ersten weißen Schleier an ihr vorüberglitten. Remis und seine Spürnasen hatten gewusst, dass der Nebel hier auftauchen würde, sie hatten ihn schon wahrgenommen, als er noch nicht sichtbar gewesen war, und doch kam er für Mia so plötzlich wie ein unheilvoller Schatten. Mit leisem Flüstern stieg der Nebel höher und hüllte die Menschen ein, die sich verwundert umsahen. Doch das Staunen währte nicht lange. Schon legten die Schleier sich um ihre Schultern und sie fielen zu Boden wie Blätter im Herbst.
Mia ließ sich von der Bank sinken. Ihre Haare fielen ihr wie ein Schleier ins Gesicht und kurz schloss sie die Augen wie die Menschen um sie herum. Doch sie schlief nicht ein. Stattdessen hörte sie, dass das Flüstern verstummte, und in der plötzlichen Stille erschien ihr der eigene Atem auf einmal ohrenbetäubend laut. Es war, als wäre sie ganz allein auf der Welt, als gäbe es niemanden, der den Nebel geschickt hatte, als müsste sie auf ewig so dasitzen, um die schlafenden Menschen zu betrachten, die in einer anderen Welt lebten als sie.
Sie öffnete die Augen, als das Flüstern zurückkehrte. Der Nebel ließ sie nur wenige Schritte weit sehen, doch sie spürte etwas hindurchgehen, eine Präsenz, die ihr in schwelender Glut über die Wangen strich. Mitten auf dem Platz hielt das Wesen inne, die Luft begann zu rauschen, und Funken stoben in den Himmel, die den Nebel in flackerndes Licht tauchten und Mias Blick unwiderstehlich anzogen. Schnell wandte sie sich ab. Sie hatte den Minotaurus in der Vision von Vraternius gesehen, aber dort hatte sie nicht diese Wärme gefühlt, die so sanft nach ihr griff. Er ist ein Dämon , rief sie sich ins Bewusstsein. Er beherrscht starke Magie, er lässt die Menschen verschwinden, und er steht nur wenige Schritte von dir entfernt. Lass dich nicht einwickeln wie … Sie schluckte und dachte ihren Gedanken zu Ende: wie ein Mensch.
Als hätte sie das Stichwort dazu gegeben, verwandelten sich die Funken in diesem Augenblick zu flammenden Strömen, die in kunstvollen Kreisen durch die Luft flossen, um sich auf die Stirnen der Menschen zu legen. Mia hörte das Knistern der Flammen um sich herum, und als sich das Feuer auf der Stirn eines Mannes teilte und auf sie zuflog, saß sie da wie erstarrt. Die Flamme durchdrang ihre Haare, ohne sie zu verbrennen, doch sie spürte die Kälte des Feuers und fürchtete für einen Moment, dass es sich von der Magie, die in ihr lag, nicht abschütteln ließe. Die dunklen Stimmen Th’ynguels raunten an ihrem Ohr, Mia fühlte uralten Zorn in ihnen und eine Gier, die ihr einen Schauer über den Rücken schickte. Doch ehe sie die Worte hätte verstehen können, zerbrach die Flamme auf ihrer Stirn.
Atemlos wie ein Tier in der Falle starrte sie auf die Flammen auf den Stirnen der anderen Menschen, die ebenfalls zerbrachen und auf sie zuflogen. Ein Strom war es, der auf sie zufloss und der dem Minotaurus zeigen würde, dass etwas nicht stimmte. Sie schaute in den Nebel, dorthin, wo sie den Dämon vermutete. Sie nahm die Stille wahr, das Staunen – und dann die Schritte, die auf sie zukamen, lautlos und doch von einer Kraft, dass sie den Boden zum Erzittern brachten. Der Nebel bauschte sich kurz auf, dann trat der Dämon aus den Schleiern.
Er war wesentlich größer, als Mia es sich ausgemalt hatte, und sie konnte die Flammen hören, die ihn durchflossen und sich aus ihm nährten, während sie seine Stimme durch den Nebel trugen, deren Macht die Menschen mit sich nahm – irgendwohin. Mia wagte nicht, ihm in die Augen zu schauen, auch wenn ihr Gesicht unter den Haaren verborgen blieb, doch sie spürte seinen Blick mit glühenden Klingen über ihren Körper streichen. Es war ihr gelungen, ihre Atmung zu regulieren, aber ihr Herz hämmerte so heftig, dass sie meinte, er müsste es hören. Die Stille um sie herum wurde ohrenbetäubend, es schien ihr, als würde sie zwischen Leichen liegen, als müsste sie aufspringen und schreien, um diesem Druck zu entgehen, der auf einmal auf ihr lastete. Doch sie blieb, wo sie war, und starrte auf die dunkle Gestalt. Er musste weiter herankommen, nur ein Stück noch, dann …
Er zögerte. Mia musste ihre ganz Willenskraft zusammennehmen, um sich davon abzuhalten, den Kopf zu heben
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