Grim
ihm fallen ließ. Eine Kinderhand hob seinen Kopf an. Es fiel ihm schwer, die Augen zu öffnen, und doch tat er es. Er schaute in das Gesicht eines toten kleinen Mädchens. Ihre Augen waren grau wie das Meer, kalt und grausam, und als sie sich vorbeugte und über seine Wange strich, da fühlte er, wie sie den Rest Wärme aus seinem Körper zog. Ein letztes Bild war es, das sie aus ihm herausriss, Grim sah es im Grau ihrer Iris auftauchen, er sah den Jungen, der vor einem schwarzen See stand und ihn anschaute. Carven war es, kurz nur und flüchtig, ehe das Bild vom Grau des Mädchens zerfressen wurde. Er bäumte sich auf gegen den Frost, mit dem das Kind ihn durchdrang, und stürzte sich vor. Verflucht noch einmal, er war ein Schattenflügler, er hatte jahrhundertelang die Erinnerungen der Menschen gelesen und vernichtet – er würde nicht zurückweichen vor einem kleinen Mädchen! Doch die Erinnerungen eines Geistes waren anders. Kaum mehr als Ascheflocken umwirbelten ihn, als er durch das Zwielicht ihrer Gedanken flog. Es waren Bilder, er sah sie wie durch gebrochene Fensterscheiben, verkratzt und unkenntlich. Sie legten sich auf seine Haut, lähmten seine Bewegungen, doch er spürte noch etwas anderes in ihrem Inneren, ein Zögern, das auch im Blick des Mädchens gestanden hatte. Ihre Augen waren nicht weiß gewesen wie die der anderen Geister. Ihre Augen – waren grau.
Kaum hatte er das gedacht, brach ein Kiesel durch die Dämmerung, glattgespült von den Wellen des Meeres, und er erblickte ein karges Feld bei Nacht darin, so gestochen scharf, dass es ihm wehtat. Er ließ sich in das Bild fallen, er stürzte auf harten Boden, eine Stadt lag in seinem Rücken, doch hier auf dem Feld gab es nichts als die wilden Hunde in den Schatten der Bäume und das Mädchen vor seinen Füßen. Sie lag zusammengekrümmt da, ihr Körper war mit Hämatomen übersät, Blut rann über ihre Schläfe. Sie sah ihn an, ihre Augen waren grau wie das Feld, ihr Atem ging schnell. Vorsichtig legte er ihr die Klaue an die Stirn, er fühlte, dass ihre Beine gebrochen waren, ein Riss ging durch ihre Lunge, schon bekam sie keine Luft mehr. Hilflos sah sie ihn an, zu schwach, um seine Hand zu nehmen, doch er ergriff die ihre. Jemand hatte sie hier zurückgelassen, jemand, der sie hatte lieben sollen. Das war alles, was er begriff, und es war genug. Er fühlte die vollkommene Einsamkeit dieses Kindes im Augenblick seines Todes. Grim spürte die Kälte, die in seine Glieder kroch und ihn lähmen wollte. Es war gefährlich, in den Geist eines Untoten einzufahren, er wusste das. Er war dem Tod auf diese Weise schon manches Mal begegnet und ihm stets nur knapp entkommen. Er musste sich lösen, musste verschwinden. Doch stattdessen schaute er das Mädchen an, so hilflos und klein, und sie hielt sich an ihm fest, während die Furcht sich in ihrem Blick verlor. Der Frost wurde Grim gleichgültig, und kurz darauf spürte er ihn nicht mehr. Er hatte vergessen, warum er gekommen war, er fühlte nur den schwarzen Flügel über sich, sanft glitt er über seine Stirn, und als er die Klaue hob und dem Mädchen das Haar aus der Stirn strich, lächelte es. Im selben Moment zog ein goldener Glanz über ihren Körper und sank in ihren Brustkorb. Staunend sah sie auf, ein Bild ging durch ihren Blick. Grim erkannte sich selbst darin, er hielt das kleine Mädchen in seinen Armen. Doch er saß nicht bei ihr als Grim, der Schattenflügler, der Hybrid, das Kind des Feuers. Er saß vor ihr als der Junge vom See.
Der Schmerz durchfuhr Grim als gleißendes Schwert. Er verlor das Mädchen aus den Augen, als grelle Lichter vor seinem Blick flackerten. Er hörte sich brüllen, aber seine Stimme brach in sich zusammen, und dann hüllte ihn das Rauschen des Flügels ein. Er wollte ihn ansehen, nur ein einziges Mal. Doch er konnte sich nicht rühren, und als ihn gleich darauf unsagbare Schwere umfing, da brauchte er einen Moment, um zu begreifen, dass er in seinen Körper zurückgekehrt war.
Eisige Luft drang in seine Lunge, und als er die Augen öffnete, sah er die blasse Hand des Mädchens, die auf seiner Brust lag. Schmerzhaft durchzog sein Herzschlag seinen Körper, als täte er es zum ersten Mal. Die Geister schwebten um ihn herum, boshaft und beschränkt stierten sie auf ihn herab. Samhur kniete mit einer Wunde an der Schulter am Boden, während Remis mit froststarrenden Haaren näher zu ihm heranflog. Dann schaute Grim das Mädchen an, das neben ihm saß. Sie trug
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