Grim
und nur eines wollt: zurück in die Wüste, die ihr euch erschaffen habt?«
Radvina holte Atem, doch kein Wort kam über ihre Lippen. Sie saß nur da, regungslos wie zuvor, und als Edwin den Blick abwandte und auf seine Schuhe schaute, stieß Jaro ein kaltes Lachen aus. »Du denkst, dass du die Welt verändern kannst«, sagte er. »Du denkst, dass die Menschen nur darauf warten, von dir geweckt zu werden. Aber so ist es nicht. Niemand wartet darauf, niemand außer dir selbst. Ich weiß, dass du tief in dir fühlst, dass ich recht habe. Du fühlst es in deinen Träumen, du fühlst es in den Gedanken, die dich hochschrecken lassen mitten in der Nacht, du fühlst es jedes Mal, wenn du den Menschen in die Augen schaust, ganz gleich, ob es Hartide sind oder nicht! Es gibt keinen Weg für dich. Du wirst immer einsam sein – wie dein Vater!«
Mias Schlag traf ihn so heftig, dass er rücklings gegen den Sarkophag stieß. Instinktiv hatte sie die Faust vorgestoßen, der Zorn brannte hinter ihrer Stirn, und er war es auch, der sie Jaro an der Kehle packen ließ und ihn hinausschleuderte auf den Friedhof, wo er mehrere Grabsteine durchschlug, ehe er benommen liegen blieb.
Mia sprang ihm nach, im letzten Moment kam er auf die Beine und entkam ihrem Schlag. Eilig sprang er zurück, sein Gesicht zeigte keine Regung, doch in seinen Augen stand ein seltsamer Schimmer, war es Erstaunen, Entsetzen? Mia wusste es nicht, und es interessierte sie auch nicht. Wie dein Vater. Sie schlug ihm einen Donnerzauber vor die Brust, Jaro schrie auf vor Schmerz, als er zu Boden ging, doch gerade, als Mia ihn packen wollte, riss er etwas aus seiner Jacke. Sie sah noch das Blitzen des Metalls, ehe der Dolch vom Nachtmarkt ihren Arm traf, und gleich darauf flutete sie heftiger Schmerz. Sie stieß einen Fluch aus, das Gift der Dämonen schoss durch ihren Körper, aber noch ehe es sie lähmen konnte, wirkte sie einen Heilungszauber und erschuf ein gleißendes Schwert aus Frost in ihrer Hand. Schwarze Schatten glitten an ihren Augen vorüber, plötzlich spürte sie Zweige auf ihrem Gesicht, sie hörte das Rauschen von Bäumen und roch Blut. Wie in einem Blitzlichtgewitter fand sie sich für Augenblicke im Forêt de Licorne wieder, sie sah das erschlagene Einhorn und Lucas’ Gesicht hinter dem Baum – und im nächsten Moment Grims Blick im Labyrinth der Schatten. Außer sich riss sie das Schwert in die Luft, sie wollte ihn nicht ansehen, nicht jetzt, und als Jaro ihren Schlag parierte, trieb sie ihn rückwärts, immer schneller und schneller, bis er stolperte und zu Boden fiel.
Der Regen hatte zugenommen, aber Mia nahm ihn kaum wahr. Ihre Bewegung war fließend, als sie die Klinge an Jaros Hals setzte. Der Blutgeruch wurde unerträglich, sie fühlte seinen Herzschlag an der Waffe pulsieren, sie sah sein Gesicht, doch fand sie keine Furcht darin und keine Härte. Etwas anderes lag in seinen Augen, doch bevor sie einen Namen dafür gefunden hatte, flammten Bilder in ihr auf, sie sah ihn als Kind, eine Faust traf sein Gesicht, dass ihm das Blut aus der Nase schoss, sie sah ihn barfuß im Winter auf der Straße und an einem Grab ganz allein. Sie sah den Zorn, die Verzweiflung, die Trauer, die sich mit jedem Wurf aus der Schale mit Erde immer dichter zu einer Dunkelheit verwoben, die er noch immer im Blick trug und die erst jetzt, als er zu ihren Füßen lag mit der Klinge ihres Schwertes an seinem Hals, lautlos zerriss. Der Wind stob Mia ins Gesicht, er löschte jede Illusion um sie herum, und sie fand den Namen für das, was in Jaros Augen stand, nun, da er sie ansah.
Mitleid.
Es war, als hätte der Blick in ihre Einsamkeit etwas in ihm aufgeschlossen, an das er seit sehr langer Zeit nicht mehr erinnert worden war, und etwas Verletzliches glitt über seine Züge. Er schien den Schnitt an seinem Hals kaum zu bemerken. Aber Mia sah ihn, und überdeutlich nahm sie den Geruch seines Blutes wahr. Sie betrachtete sich von außen wie an dem Morgen, an dem sie erstmals in Seraphins Nebel gegangen war, und sie bemerkte das Andere, Kalte, Tödliche, das in ihrem Blick lag und ihr den Atem raubte. Fast so etwas wie Angst … Sie erinnerte sich an Lucas’ Gesicht im Park des Einhorns. Doch anstelle des Schmerzes, den sie sonst stets bei diesem Bild empfunden hatte, brach nun eine haltlose Leere in ihrem Inneren auf, die sich langsam und gnadenlos mit der Stille füllte, die sie in den Augen ihres Vaters erkannt hatte.
Klirrend fiel das Schwert auf die Gräber
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