Grim
Augen waren wie ein Stück vom Himmel, aber etwas anderes brach plötzlich durch das Licht, etwas Dunkles, Eisiges, das nach Abschied schmeckte. Übermächtig spürte er den Schmerz durch seine Glieder rasen, und er sah die Sorge in Carvens Blick – eine Sorge, die ihm galt. Im nächsten Moment war der Junge verschwunden.
Grim konnte nicht atmen. Der Schmerz drängte die Kälte in seinen Adern zurück und erfüllte ihn so vollständig, dass jedes andere Gefühl, jeder Gedanke in ihm zu Asche verbrannte. Die Magie setzte seine Faust in Flammen, außer sich riss er sie in die Luft. Das Bild des Saals zerriss wie eine Leinwand, und noch ehe die Nacht dahinter nach Grim greifen konnte, stürzte er sich vor.
Funken sprühten über sein Gesicht, in raschem Wechsel flackerten Tag und Nacht um ihn herum, verdichteten sich zu Nebel und zerrissen schließlich wie brennende Kleider. Die kühle Luft der Traumwelt schlug Grim entgegen, er legte die Schwingen an den Körper und raste über eine Wiese dahin, er hörte das Rauschen der Bäume im nahegelegenen Wald und richtete den Blick auf den Horizont. Er wusste, wo die Menschen waren, es war, als würde er von ihnen angezogen. Immer schneller schoss er dahin und versuchte vergebens, Carvens Blick aus seinen Gedanken zu vertreiben. Niemals zuvor hatte der Junge ihn auf diese Weise angesehen, so ruhig und so traurig, und nie zuvor hatte ihn das Entsetzen mit solcher Macht ergriffen. Er ertrug den Gedanken nicht, dieses Kind zu verlieren, und es gab keine Frage, keinen Zweifel mehr in ihm. Mochte Verus ihm die Macht Braskatons entgegenstellen und alle Schrecknisse seines verfluchten Hirns – kein Tod dieser Welt oder einer anderen würde Carven aus seinen Armen reißen. Niemals.
Er hatte den Wald fast erreicht, als plötzlich ein Schatten von links heranschoss und sich ihm entgegenstellte. Im letzten Augenblick konnte Grim ihm ausweichen. Seine Klauen rissen den Boden auf, Steinsplitter gruben sich in sein Fleisch, und als er auf die Beine kam, stockte ihm für einen Moment der Atem. Vor ihm stand Seraphin, die Brust halb zerrissen, die Schwingen engelsgleich hinter sich aufragend, und schaute zu ihm herüber. Er musste nichts sagen, sein Blick genügte, um Grim vorwärtszutreiben. Er hatte keine Zeit für Vorwürfe und Diskussionen, er musste Carven befreien, sofort. Er stieß Seraphin vor die Brust, doch sofort trat dieser ihm erneut in den Weg und legte ihm die Hand auf die Schulter.
»Sei kein Narr«, sagte Seraphin eindringlich. Seine Finger waren wie Eis auf Grims Haut. »Niemand kann diese Grenze niederreißen, nicht einmal ein Kind des Feuers!«
Grim schlug seine Hand weg und starrte in diese dunklen Augen aus Schuld und Vergebung, die ihm das Atmen schwer machten. »Ich werde es können«, sagte er, doch Seraphin schüttelte den Kopf.
»Aber zu welchem Preis?«, fragte er. »Ist es das wert?«
»Was weißt du davon«, erwiderte Grim dunkel. »Was weißt du vom Herzschlag eines Menschenkindes in deinen Gedanken, was von seinem Atem an deiner Wange, seinem Lachen, seinem Weinen, was weißt du davon, wenn es dir die Brust zerreißt bei dem Gedanken, dieses Kind sterben zu sehen? Nichts, gar nichts, Seraphin!«
Damit wollte er seinen Weg fortsetzen, doch sein Bruder hielt ihn zurück. Schmerz stand in seinen Augen und färbte sie dunkel. »Du hast recht«, sagte er. »Ich weiß nicht, was es bedeutet, einen Sohn zu haben. Doch ich kenne die Verzweiflung, die du jetzt fühlst, ich bin ihr lange genug gefolgt, und du weißt, was es mich gekostet hat!« Das Feuer glitt über ihn hinweg, schwarz und eiskalt, und Grim schauderte, als er die Glut der Flammen auf seinem Gesicht spürte. »Wir sind Brüder«, sagte Seraphin, und seine Stimme drang laut durch das Prasseln des Feuers. »Erinnere dich! Willst du, dass es dir so ergeht wie mir?«
Für einen Moment stand Grim noch einmal mit ihm im Saal der Könige, damals, als Seraphin sich von der Schwarzen Flamme verzehren ließ. Der Schrecken über diesen Anblick jagte mit spitzen Klauen über seine Haut, und er sah sein eigenes Gesicht vor sich, brennend in einem endlosen Meer. »Du kannst ihn nicht mehr retten«, flüsterte Seraphin und Grim wusste, dass er von Carven sprach, von Carven, dem Krieger des Lichts, dem Drachenbeschwörer, dem Menschenkind. »Er ist verloren.«
Später hätte Grim nicht mehr sagen können, aus welchem Grund er die Faust hob und Seraphin mit voller Wucht ins Gesicht schlug. Vielleicht hatte es
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