Grim
Sie haben Carven mit sich genommen.
Beim Sprung über eine Pfütze stieß sie gegen eine Häuserwand und riss sich den Arm auf, aber sie achtete nicht darauf. Carven stand ihr vor Augen, sie hörte ihn lachen, fühlte seinen Atem an ihrer Wange, als er schlief, und sie sah Grim vor sich, wie er am Bett des Jungen gestanden hatte, schweigend und mit diesem schattenhaften Blick, der sein Gesicht zu gleichen Teilen friedlich und bedingungslos wirken ließ. Niemals zuvor hatte Grim jemanden so angesehen, noch nicht einmal sie, und Mia fühlte, dass die Erschütterung, die sie selbst spürte, ihn um den Verstand bringen konnte. Verus hatte Carven in seiner Gewalt, sie sagte sich diesen Satz vor, als wäre er eine schwierige Formel, die sie nicht begriff. Vergebens hatte sie versucht, Grim oder Mourier zu erreichen und die Nachricht schließlich dem Adjutanten des Königs übermittelt. Doch es würde lange dauern, den Löwen in der Schlacht zu finden, und außerdem würde selbst er in dieser Situation wenig ausrichten können. Warum, zur Hölle noch eins, hatte Verus Carven entführt? Grim würde alles für den Jungen tun, das stand außer Zweifel, doch selbst er würde die Armee Ghrogonias nicht aufhalten können, wenn die Macht des Königs ihm entgegenstand – und so sehr Mourier ihm verbunden war, so sehr auch er Carven ins Herz geschlossen hatte, so eindeutig war er auch die höchste Gewalt der Anderwelt und seinem Volk verpflichtet. Kalt schlug Mia der Wind entgegen, doch sie verlangsamte ihren Lauf nicht. Grim war in eine Falle geraten, deren Ausmaß sie nicht erfassen konnte, aber sie wusste, dass es allein an ihr lag, ihm zu helfen. Sie musste herausfinden, was Verus vorhatte, um jeden Preis. Vielleicht fand sie einen Weg, die Pläne des Dämons zu vereiteln. Sie grub ihre Nägel in ihre Handflächen. Es gab nur eine Möglichkeit, wie dieser verdammte Goldene Schatten erfahren haben konnte, wo Carven sich aufgehalten hatte, und diese Gewissheit brannte so schmerzhaft hinter ihrer Stirn, dass sie die Kälte des Regens kaum noch wahrnahm.
Sie war außer Atem, als sie den Olšany-Friedhof erreichte. Schwaden aus verbranntem Laub stoben ihr entgegen, und als sie endlich bei der Krypta ankam, die sie gesucht hatte, trat sie die marode Tür ein, dass sie scheppernd aus den Angeln flog, und blieb im Rahmen stehen. Ihr Schatten fiel in den dämmrigen Raum, sie spürte die Hitze, die ihr durch das plötzliche Innehalten in den Kopf stieg, doch kaum, dass sie Radvina und Edwin hinter dem Sarkophag entdeckte, sank die Glut zurück in ihre Brust und verwandelte sich in eisige Kälte.
Ihr Herzschlag verlangsamte sich, ihr Atem wurde ganz ruhig. Kurz sah sie das Erstaunen auf Radvinas Gesicht, die Furcht in Edwins Augen, und sie hätte sich vor ihrer eigenen Stimme erschrocken, wenn sie nicht Carvens Atem gefühlt hätte und den schwarzen Blick von Grim auf ihrer Haut.
»Wo ist Jaro?«, fragte sie, und sie konnte sehen, wie jedes Wort die Luft vereiste, wie es die Schatten in den Ecken beschwor und den grausamen Wind des Friedhofs zwischen flüsternden Klauen zerfetzte, bis es vollkommen still war.
Radvina öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch da trat Jaro aus dem Bogen, der hinab zur Gruft führte. Er trug ein Bündel über der Schulter, Erstaunen flackerte über sein Gesicht, als er Mia sah, dicht gefolgt von einem Lächeln, das sie wie ein Schlag traf. Seine Augen waren teerschwarz und betrachteten sie auf eine Weise, die jeden Zweifel, jede Hoffnung darauf, dass sie sich geirrt haben könnte, zerriss.
»Du hast Carven an Verus verraten«, sagte sie mit kalter Stimme. Radvina und Edwin erschraken, als wären sie eine Person, was Mia die Sicherheit gab, dass Jaro sich ganz allein auf Verus’ Seite gestellt hatte. Kurz maß er sie mit seinem Blick, dann stieß er einen verächtlichen Laut aus und ging auf sie zu. Er hatte nicht die Absicht, auch nur ein Wort mit ihr zu wechseln, das stand außer Frage, doch sie stieß ihm so heftig vor die Brust, dass er zurücktaumelte. Zorn flammte in seinen Augen auf.
»Geh mir aus dem Weg«, sagte er, aber Mia ignorierte die Drohung, die in seiner Stimme mitschwang.
»Ich denke nicht daran«, erwiderte sie. »Ich habe mein Leben für dich riskiert, ich habe dich vor dem Tod bewahrt, ebenso wie Grim! Und wie hast du es uns gedankt? Verus hat Carven in seinen Fingern, Jakob und Theryon wurden schwer verletzt! Du hast ein Kind an einen Dämon verraten, an den schlimmsten unter
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