Grim
selbst Vraternius nur widerwillig in die Hand nahm aus Ehrfurcht vor dem Alter der Vampire. Die Zeichen tanzten vor ihrem Blick, und plötzlich meinte sie, einen eisigen Hauch zu fühlen, ein Atemholen, das sie näher an das Buch heranzog, als würden die verschlungenen, in lang vergangener Zeit geschriebenen Buchstaben sie in den Abgrund ihrer Sprache reißen.
Da fuhr Lyskian mit der linken Hand über die Zeichen. Sie verwischten wie frisches Blut, doch statt an seinen Fingern haften zu bleiben, flossen sie in unsichtbaren Linien ineinander, erhoben sich in die Luft und bildeten ein Gesicht nach, das sich mit jedem Strich stärker aus dem Schwarz der Seite heraushob, bis es über dem Buch schwebte, flirrend und geisterhaft wie ein düsteres Omen.
Angespannt schaute Mia den Minotaurus an. Seine Hörner brannten, seine Augen glommen in kalter Glut, und die Flammen wühlten sich durch sein Fleisch, dass es aussah, als würde schwarzes Fell sein Gesicht überziehen. Gleich darauf jedoch fielen seine Umrisse in sich zusammen und ließen das glimmende Bild einer Maske zurück, die dem schlichten Gipsabdruck eines menschlichen Gesichts ähnelte. In grausamer Kälte loderte das Feuer in ihren Augen auf. Lyskian holte tief Atem, doch als er den Mund öffnete, um etwas zu sagen, kam seine Stimme nicht aus seiner Kehle. Sie drang aus dem starren Mund der Maske und wurde umtost von unzähligen weiteren Stimmen, die wie ein Sturmwind einen Namen mit sich trugen, einen Namen, der Mia einen Schauer über den Rücken schickte.
Bhaal’vrion , raunte es, und kaum, dass das Wort das Feuer im Kamin hatte auflodern lassen, begann die Glut in den Augenhöhlen der Maske zu flackern, so lodernd und hell, dass die Flammen Mia packten und mit sich rissen, kopfüber in eine Illusion, die sie wie ein Fiebertraum umschloss.
Sie lag auf den Knien und spürte kalten Marmor unter ihren Händen, doch das Gefühl verblasste angesichts der Hitze des Feuers, das sich direkt vor ihr als mächtige Flammenwand erhob und in dem sie eine Gestalt erblickte, einen menschenähnlichen Koloss mit kahlem Schädel und schwarzer, nackter Haut, unter der sich Schlangenkörper wanden, die zischend ihre zahnbewehrten Mäuler aus seinem Fleisch in die Luft stießen. Seine Augen brannten in weißem Feuer, zwei goldene Hörner ragten aus seiner Stirn, ein Reptilienschwanz peitschte durch die Flammen und verwandelte sie in knisternde Funken, und als er den Mund aufriss, fielen die verbrannten Leiber von Kindern aus seinem Maul und zerstoben in den Flammen zu Asche.
Mia wich zurück, doch sie konnte sich nicht abwenden. Bhaal’vrion. Sie hatte von diesem Dämon gehört, von dem Kinderfresser, dem Menschenfeind, von dem Schlund der Schwarzen Feuer und dem Brodem, der über die Wüste Shar’kalons weit unter dem heutigen Moskau dahingefegt war und nichts als Tod hinter sich zurückgelassen hatte. Bhaal’vrion, jener Dämon aus der Ersten Zeit, der unersättlich war in seiner Gier. Gegen die mächtigsten Völker der Anderwelt war er in den Krieg gezogen, selbst gegen sein eigenes Blut, und schließlich verschlang er Us’vuril und Kar’monthas, die Ersten Dämonen der Welt, und erhob sich gegen die Götter. Erst sie schlugen ihn zurück, zerrissen ihn in ihrer gleißenden Welt und verschlossen sie für alle Zeit für sein Volk.
Brüllend riss Bhaal’vrion die Fäuste empor. Er rief die Asche zu sich und sie verwandelte sich vor ihm in der Luft zu dem zurück, was sie einst gewesen war: zarte, weiche Kinderhaut. Schreckensstarr sah Mia zu, wie Flammen durch das Fleisch rasten, wie schwarze Rußfäden zu metallenen Drähten wurden und die Fetzen zusammennähten und dann unter den dunklen Worten des Dämons jene Maske hervorbrachten, die das Buch ihnen gezeigt hatte. Bhaal’vrion griff nach ihr, doch kaum, dass er sie sich auf das Gesicht presste und die schwarzen Flammen durch die Haut brachen, veränderte sie sich. Sie verwandelte seinen Kopf in den einer Echse, einer Harpyie, Dornen wuchsen ihr aus dem Fleisch, während sie sich weiter verformte, schneller und schneller, bis Mia in ihr eigenes totes Gesicht schaute. Sie schlug sich die Hand vor den Mund, aber der Dämon lachte, und dieser Laut war es, der sie auf die Beine riss. Sie taumelte rückwärts, doch sie konnte sich nicht von Bhaal’vrion abwenden.
Ghrannos! , brüllte der Dämon, und seine Stimme raste auf sie zu wie ein Fluch. Rrath’uniem tro’skurr!
Im nächsten Moment schlug Mia auf dem Boden
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