Grim
Symbolen auf dem Rücken aus dem Regal. Erst, als er sich wieder an seinen Platz begab, erkannte Mia, dass es keine Lesebänder waren, die aus den Seiten hingen, sondern feine Dornenranken. Remis kam auf die Beine, neugierig flog er näher heran und wich gerade noch rechtzeitig dem Hieb einer Ranke aus, die blitzschnell nach ihm ausgeschlagen hatte.
»Ach du heiliger Strohsack!«, rief der Kobold und schwirrte so schnell zurück an seinen Platz, dass seine Haare für einen Moment wie eine Fahne im Sturm von seinem Kopf abstanden. »Verflucht, was war das denn?«
Grim trat näher an das Buch heran und bedachte es mit einem finsteren Blick. »Verflucht sind solche Schriften, in der Tat«, grollte er. »Grimoires der Schwarzen Magie, deren Seiten aus Menschenhaut bestehen und mit dem Blut ungetaufter Kinder beschrieben wurden, gefüllt mit Formeln von Flüchen, Schadenszaubern und nekromantischen Grausamkeiten. Ich zweifle nicht daran, dass eine ganze Reihe von Alchemisten den Verstand verloren hat angesichts des Wissens, das sich zwischen diesen Buchdeckeln verbirgt.«
»Man sollte sich nicht in die Nacht begeben, wenn man die Schatten fürchtet«, erwiderte Lyskian gelassen und öffnete das Buch, während die Dornenranken über seine Hände glitten. Die Seiten waren pechschwarz und zeigten weder Buchstaben noch Zeichnungen. Sie waren vollkommen leer.
»Jede Menge Nacht«, stellte Grim fest. »Ich verstehe nicht besonders viel von Literatur, aber ich weiß, dass ein Buch mit leeren Seiten uns keine Antworten geben wird.«
Lyskian lächelte kaum merklich. » Zum Glück sind Bücher für die Allermeisten bloß Literatur. «
Mia musste grinsen, als Grim verächtlich schnaubte. Für gewöhnlich vermied er es, sich mit Lyskian über Nietzsche auszutauschen, und auch dieses Mal verschränkte er lediglich die Arme vor der Brust und starrte auf die schwarzen Seiten, als könnte er sie mit seiner puren Willenskraft zum Sprechen bringen. Lyskian hingegen knöpfte die Ärmel seines Hemdes auf und schob sie bis zu den Ellbogen zurück. Seine Haut war ebenmäßig wie bei einer marmornen Statue, und fast erschien es Mia unwirklich, als sich die Dornenranken um seine Arme wanden und feine Kratzer darin hinterließen. Geschmeidig wie Schlangenleiber schlossen sie sich um seine Handgelenke und gruben sich auf ein leises Wort von ihm in sein Fleisch. Mia unterdrückte einen Schreckenslaut, als dunkles Blut über seine Arme lief. Ein Ton ging durch den Raum, sie hätte nicht sagen können, ob er von Lyskian oder aus dem Buch kam. Es war ein Stöhnen und zugleich ein erstickter Schrei. Sie sah zu, wie sich die Ranken verfärbten und sich blutige Zeichen aus den Seiten hoben, als wären sie aufbrechende Wunden in uraltem, verkrustetem Fleisch. Langsam hob Lyskian die Hände. Er flüsterte etwas, und die Seiten blätterten sich um, erst langsam, dann immer schneller, bis sie wie in einem unsichtbaren Sturmwind flatterten. Fremdartige Symbole bedeckten die Seiten, Formeln in uralter Sprache, aber auch Beschreibungen von Beschwörungen und immer wieder Zeichnungen von Opferhandlungen, Menschen mit verdrehten Gliedern und herausgerissenen Augen, Kinder, die auf ihren Handrücken liefen und solche, die sich selbst die Haut vom Körper rissen. Mia hielt den Atem an. Grim hatte recht gehabt, es war ein Dämonenbuch, das sie betrachteten, doch es unterschied sich von denen, die Theryon und Vraternius ihr gezeigt hatten. Dieses Buch war uralt, die Haut der Menschen, aus denen es bestand, war zart und mit schimmernden Schuppen besetzt, und ein Duft ging von ihm aus, den Mia nur aus sehr alten Kirchen kannte oder aus den unbekannten Teilen der Katakomben, in die sie Grim mitgenommen hatte, um ihr das Alter der Anderwelt vor Augen zu führen.
Rauschend legte sich der Sturm in den Seiten. Remis rutschte auf der Lehne bis ganz nach vorn, Grim beugte sich über das Buch und Mia tat es ihm mit klopfendem Herzen gleich. Auf einer Doppelseite standen dicht an dicht verschlungene Worte. Sie meinte, sie als Ànth’karya zu erkennen – eine der ältesten Sprachen der Vampire. Lyskian hatte ihr Sarkophage gezeigt, die von dieser Sprache einst verschlossen wurden und die bis heute niemand zu öffnen wagte aufgrund der Schrecklichkeit der Flüche, die eine einzelne Silbe Ànth’karyas in sich bergen konnte. Und sie erinnerte sich an die Pergamentrollen und Fluchtafeln in den Archiven Ghrogonias, die Verwünschungen in dieser Sprache enthielten und die
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