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Grimm - Roman

Titel: Grimm - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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die Gestalten, die uns die Märchen präsentieren. Die Märchen sind Lügen, geschickt kreiert, um ein einziges Ziel zu erreichen.«
    »Welches Ziel?«
    »Später …« Andersen atmete tief durch.
    »Sie waren also zu einer Bedrohung geworden«, brachte es Leander auf den Punkt.
    »Und deswegen«, ergänzte Vesper, »wurde die Bohemia gegründet. Um die Menschen zu schützen.«
    »Genau, nur war es komplizierter.« Andersen zog sich den Mantel aus und warf ihn über einen der Sessel. »Im Jahre 1791 trat Alexander von Humboldt, ein junger Student mit familiär bedingten sehr guten Kontakten zum Königshaus, beim preußischen Oberberghauptmann von Heinitz seinen ersten Dienst an. Während des Studiums in Freiberg musste er, neben dem theoretischen Studium, auch einen richtigen Bergmannsdienst verrichten. Er fuhr mit anderen in die Gruben hinein und fand Gefallen an dieser Arbeit. Es galt, da unten eine neue Welt zu entdecken.«
    Vesper erinnerte sich an den Namen. Alexander von Humboldt war einer der großen Entdecker gewesen. Er hatte zahlreiche naturwissenschaftliche Werke und Reiseberichte verfasst.

    »Er arbeitete dort unten in der stickigen Finsternis und entdeckte eine große Vielzahl neuer Pflanzen. Er sammelte seine Funde in einem dicken Buch: dem Florae Fribergensis Specimen . Darüber hinaus entwickelte er neuartige Verfahren zum Abbau von Schiefergestein und erstmalig auch Methoden zur Früherkennung von Grubenwettern. Er entwickelte sogar eine Art Gasmaske, mit der man sich untertage schützen konnte.«
    »Was hat das mit den Mythen zu tun?«
    »Wartet ab«, forderte Andersen. »Ich sagte bereits, das alles ist sehr kompliziert.«
    Vesper bemühte sich um Geduld. Sie war noch immer aufgewühlt durch das Telefonat mit Ida.
    Andersen fuhr fort: »Schließlich wurde von Humboldt ins Fichtelgebirge und in den Frankenwald beordert, wo er den dortigen Bergbau von Grund auf sanieren sollte. Und während seiner Arbeit dort stieß er auf einen verborgenen Stamm von Mythen. Sie lebten versteckt untertage und hatten dort große Städte errichtet. Ja, ganze Fabriken gab es dort unten.«
    »Moment, Moment«, fuhr ihm Leander ins Wort, »Sie sprechen hier von Zwergen?«
    Andersen sagte nur: »Ja.«
    »Alexander von Humboldt hat Zwerge im Fichtelgebirge entdeckt?«
    »Ja, das hat er. Aber stellt euch nicht diese kleinen lustigen Gesellen mit ihren bunten Zipfelmützen vor. Zwerge sind grimmige Wesen, die in der Dunkelheit sehen können. Ihre Haut ist bleich und ihr Körperbau kompakt. Sie
mögen das Tageslicht nicht besonders, und ihre Augen sind normalerweise milchig weiß.«
    Vesper verzog das Gesicht. Das klang in der Tat nicht nach den Zwergen, die Schneewittchen zu Hilfe eilten.
    »Sie entwickelten Maschinen, tief im Inneren der Berge, so neuartig, wie man es sich nicht vorstellen konnte. Sie erschufen Waffen aus Erzen und Mineralien, die bis dahin noch nicht von den Menschen entdeckt worden waren. Und sie verkauften das, was sie erschufen, an diejenigen, die dafür zahlten.«
    »Soll das heißen, dass sie Kriegstreiber waren?«
    »Sie waren im Bunde mit anderen Mythen, die ihrerseits mit den großen Herrscherhäusern Europas und der Neuen Welt verkehrten. Ja, sie beeinflussten die Geschicke der Menschen nicht unwesentlich, indem sie die alte Welt gegen sich selbst ausspielten.«
    »Was tat von Humboldt?«
    »Er informierte augenblicklich die Bergverwaltung. Die Freiherrn von Stein und von Hardenberg schenkten ihm, anfänglich zwar noch voller Skepsis, durchaus Gehör und ließen sich schnell von den Fakten überzeugen. Eine nicht gerade kleine Abordnung von Soldaten wurde untertage gebracht. Die Stollen, die zu den Zwergenstädten und den Fabrikanlagen führten, wurden mit Sprengstoff zum Einsturz gebracht. Gleichzeitig sandte man Agenten aus, die das Ausmaß der Verschwörung erkunden sollten.«
    Nicht einmal Leander unterbrach ihn jetzt. Die Geschichte, die Andersen da erzählte, war so unglaublich,
dass man ihr nur lauschen konnte. Sie war besser als die Märchen ihrer Kindheit, definitiv.
    »Alexander von Humboldt wurde zum Oberbergrat befördert. Ihm oblag nun die Überwachung der Gruben.«
    Vesper versuchte sich vorzustellen, wie die Begegnung mit den Zwergen wohl ausgesehen hatte. Sie stellte sich blutige Kämpfe untertage vor, Explosionen in den Grubenanlagen. Was war mit den Zwergen geschehen, nachdem man ihnen den Weg in die Welt verwehrt hatte? Waren sie verhungert? Verfügten sie womöglich noch über

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