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Grimm - Roman

Titel: Grimm - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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glaubhaft versichern, dass die Mythen Hirngespinste sind.«
    »Genau das taten sie.«
    Vesper fühlte sich nicht wohl in ihrer Haut. »Das klingt nicht sehr nett.«

    Andersen ignorierte ihre letzte Bemerkung. »Nachdem die Bohemia erst einmal gegründet worden war, gewann man in den folgenden Jahren noch andere, die der Bekämpfung der Mythen nicht abgeneigt waren. Neben den Brüdern Grimm sowie Goethe und Schiller traten Ludwig Tieck, E. T. A. Hoffmann, Ludwig Bechstein und Wilhelm Hauff dem Bund bei.«
    »Um was zu tun?«
    Vesper sah Leander an, dass er ahnte, was sie getan hatten.
    »Sie alle schrieben erfundene Geschichten auf«, erklärte Jonathan Andersen, »denn nur so funktionierte es. Geschichten, die die Mythen ins trübe Reich der Phantasie verbannten.«
    »Sie nahmen ihnen die Lebenskraft, weil sie die Menschen glauben ließen, dass die Mythen nur Geschöpfe der kindlichen Einbildung und des Aberglaubens seien?«
    »Ja, und so verschwanden die Mythen schließlich aus der Welt.«
    »Denn die Menschen glaubten, dass die Geschichten frei erfunden waren.« Mit einem Mal sah Vesper die alten Märchen in einem ganz anderen Licht.
    »Die Menschen fürchteten sich nicht mehr vor dem, was in den Wäldern lauerte. Sie begannen jetzt ihren Verstand zu benutzen, und so brach ein neues Zeitalter für die Menschheit an. Nunmehr endgültig.«
    »Und die Bohemia ?«, fragte Vesper.
    »Existiert seitdem.«
    »Aber warum?«

    »Das«, sagte Andersen, »ist das Problem.« Er seufzte. »All die Jahre über hat es immer wieder Versuche der Mythen gegeben, ihren Platz in der Welt zurückzuerobern. Sie waren hartnäckig. Und, nun ja, diese Versuche mussten unter allen Umständen vereitelt werden. Deshalb existierte die Bohemia weiter. Es war ihre Aufgabe, die Welt zu überwachen. Kam es vor, dass die Mythen auftauchten, dann wurde die Bohemia aktiv.«
    »Das heißt?«
    »Ihre Mitglieder gingen gegen die Mythen vor.«
    Vesper fragte sich, was das alles sollte.
    »Sie haben sie getötet?«
    »Ihr habt die Wölfe gesehen. Sie führen nur Böses im Schilde.«
    Das war keine Antwort auf ihre Frage. Vesper musste an den Menschenwolf denken, an die Buchstaben, die sich in seine Haut gefressen hatten. Sie hatte keine Ahnung, was sie da getan hatte. Sie hatte es tun können - aber sie wusste nicht, ob es richtig gewesen war.
    Wie sie es getan hatte.
    Es war einfach so passiert.
    »Was geschieht mit den Kindern?«, wollte sie wissen.
    Andersen winkte ab. »Dazu komme ich später.«
    »Wir müssen etwas tun«, blieb Vesper hartnäckig.
    »Ja, ja, ich weiß.« Er blickte nach draußen, wo sich neuer Schneefall am grauen Himmel ankündigte. »Es gab schon einen Versuch, gegen die Mythen zu kämpfen, lange bevor die Bohemia ins Leben gerufen wurde.«
    »Wann?«

    »Vor mehr als siebenhundert Jahren«, antwortete er. »Zumindest ist das einer der wenigen Fälle, die uns noch bekannt sind.«
    »Was geschah damals?«
    »Die katholische Kirche duldete keine Mythen neben ihrem Gott. Also nahm sich die Inquisition ihrer an. Hexen wurden verbrannt, alle Arten von seltsamen Tieren getötet. Die Scheiterhaufen brannten überall auf dem Kontinent. Und bald schon dachte niemand mehr an die Mythen. Die Angst vor der Inquisition war an die Stelle der Furcht vor den Mythen getreten.«
    Vesper begann zu ahnen, was geschehen war. »Aber die Mythen überlebten.«
    »Ja, sie taten etwas, was den Glauben der Menschen an sie wiederherstellte.«
    »Was?«
    »Sie nahmen sich ihre Kinder.«
    Beide starrten ihn an.
    Und heute passiert es wieder, dachte Vesper. Nichts hat sich in all den Jahren geändert.
    Nichts.
    »Es trug sich in einer Stadt namens Hameln zu.«
    Das also war die Geschichte. Fast jedes Kind kannte sie. Die Geschichte vom bösen Rattenfänger, der die Kinder entführte. Doch insgeheim ahnte Vesper bereits, dass sie jetzt eine andere Geschichte präsentiert bekommen würde. Also lauschte sie.
    »Im Frühjahr 1284«, begann Andersen, »kam ein wundersamer Mann in die Stadt. Er trug ein Obergewand aus
buntem Tuch und spielte auf einer hölzernen Flöte gar seltsame Melodien, die alle verzauberten. Die Menschen tanzten zu seiner Musik in den Straßen und Höfen und feierten die ganze Nacht hindurch. Keiner von ihnen fragte sich, warum der seltsame Mann in die Stadt gekommen war. Nach dem Fest jedenfalls schliefen die Bewohner der Stadt erschöpft ein. Als man in Hameln am nächsten Morgen aus dem tiefen Schlaf erwachte, da waren alle Kinder

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