Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Grimm - Roman

Titel: Grimm - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
Vom Netzwerk:
gut«, er knöpfte sich den Mantel auf. »Wo fange ich an, wo fange ich an?« Andersen trug ein blaues Hemd, ein Pistole unter dem Arm und dazu eine altmodische Bundfaltenhose, die aussah wie aus dem letzten Krieg.
    »Am besten fangen Sie von vorn an«, schlug Vesper vor. Sie nippte schnell an ihrem Cappuccino, eine Übersprungshandlung. Sie wusste nicht recht, was sie tun sollte.

    Die Situation war wirklich abgefahren, definitiv.
    »Gut, gut.« Er schaute auf. »Zuallererst eine Frage: Ihr habt die Schlüssel?«
    Leander zuckte die Schultern: »Und wenn wir sie nicht haben?«
    Jonathan Andersen sah auf einmal sehr betrübt aus, ernsthaft besorgt und überhaupt nicht zu Scherzen aufgelegt. »Dann, meine Freunde, haben wir ein sehr, sehr ernsthaftes Problem. Denn nur mit den Schlüsseln können wir das Refugium betreten.«
    »Das Refugium in der Speicherstadt«, erinnerte sich Vesper.
    »Du kennst es?«
    »Herr Coppelius hat es erwähnt.«
    »Die Mythen wollen ebenfalls dorthin. Sie haben die Wölfe ausgeschickt, und sie werden, muss ich anmerken, immer stärker.« Er deutete auf einige Löcher, die sie ihm offenbar in seinen Mantel gerissen hatten. »Die Menschen beginnen nach all diesen seltsamen Ereignissen wieder an sie zu glauben. Genau das bezwecken sie; das und nichts anderes. Denn wenn man an sie glaubt, dann werden sie wieder stark.« Er seufzte. »Nur das, wovor man sich fürchtet, hat Macht über einen.«
    »Sie meinen, deshalb waren sie so unscharf?« Weil niemand an ihre Existenz glaubte?
    Er nickte. »Es ist komplizierter, aber: ja, so in etwa.«
    Die Flucht durch den Bahnhof. Deswegen hatte niemand den Menschenwolf beachtet. Nur Vesper hatte ihn gesehen, hier und da hatte sich zwar ein kleines Kind unbehaglich
umgedreht und nach etwas Bösem Ausschau gehalten, aber das war auch schon alles gewesen.
    »Was hat es mit diesem Refugium auf sich?«
    »Womöglich gibt es dort Hinweise auf eine Rettung, ich weiß es auch nicht wirklich. All die anderen Stützpunkte wurden zerstört. Es gab sie überall im Land, doch nur dieser hier blieb unangetastet. Bisher.«
    »Die anderen?«
    Er seufzte langgezogen. »Darf ich?« Er streckte die Hand nach dem Croissant aus.
    »Bitte«, sagte Leander.
    Andersen biss hinein. »Oh, das ist lecker.« Er schnippte ein Stückchen davon hinüber zu dem Äffchen.
    »Er frisst Croissants?«
    »Edgar frisst fast alles.«
    Das Äffchen machte einige flinke Bewegungen mit den Vorderpfoten, die wie eine Gebärdensprache anmuteten.
    »Nichts zu danken«, entgegnete Andersen. Dann fuhr er fort: »Die Bohemia ist eine Geheimgesellschaft. Sie wurde anno 1804 gegründet, um die Mythen, die damals noch überall lebten, zu bekämpfen.«
    Leander schaltete sich jetzt ein. »Was, in aller Welt, sind denn nun die Mythen ?«
    Andersen erklärte geduldig: »Die Mythen, müsst ihr wissen, sind eine Art Volksstamm, ja, das könnte man so sagen. Magische Wesen, wenn man davon ausgeht, dass Magie real ist. Alles, was wir aus den alten Märchen kennen, ist auf die eine oder andere Art wahr und gelogen zugleich. Es ist das, was wir glauben sollen.«

    »Geht das auch genauer?« Vesper wurde allmählich ungehalten. Er hatte eben Recht gehabt, als er betonte, dass ihnen die Zeit davonlief. Sie wollte zu Ida und der Kleinen und nachschauen, wie es ihnen ging.
    Stattdessen saß sie hier auf diesem alten Frachter und lauschte der abstrusen Geschichte dieses Fremden.
    »Das Volk der Mythen«, begann Andersen, »lebte schon immer unter uns. Die alten Märchen und Sagen wissen davon zu berichten. Die Mythen - das sind magische Geschöpfe, die sich die Welt mit den Menschen teilten. Sie lebten in den Wäldern und Flüssen, kamen in die Dörfer und beeinflussten die Geschichte der Welt. Sie waren ein Teil von allem, und Magie war etwas, was irgendwann einmal normal war.«
    Das Äffchen hüpfte von dem Koffer und setzte sich neben Vesper aufs Bett.
    »Realismus ist nur eine Sicht der Dinge, nicht die endgültige.«
    Edgar, das Äffchen, schaute sie aus dunklen Knopfaugen an. Vesper streckte die Hand aus und streichelte ihm über den Kopf. Es schloss die Augen und seufzte, wie ein Mensch es hätte tun können.
    »Er mag dich.«
    Sie sah den Fremden an und sagte nur: »Schön.«
    Andersen sah auf die Armbanduhr an seinem Handgelenk. »Okay, zurück zur Geschichte. Die Mythen …«
    Vesper unterbrach ihn. »Mythen? Meinen Sie Märchenfiguren?« Wenn man es so ausdrückte, klang es banal
und ungefährlich. Irgendwie

Weitere Kostenlose Bücher