Grimm - Roman
dämlich und wenig geheimnisvoll.
Selbst Leander wirkte skeptisch. »Sie sprechen von Zwergen und Wölfen, Riesen und allem anderen auch?«
Es ist alles wahr, entsann sich Vesper plötzlich der letzten Worte ihrer Schwester. War es möglich, dass … Nein! Oder doch? Verdammt noch mal, war es wirklich möglich, dass sie davon gewusst hatte? All die Jahre hatte sich Vesper gefragt, was Amalia wohl damit gemeint haben konnte. Es ist alles wahr. Und jetzt, an diesem Wintertag, kam es ihr so vor, als sei die Antwort auf diese Frage auf einmal zum Greifen nahe.
»Den Wölfen seid ihr ja schon begegnet.«
»Und?« Leander tat überaus wenig beeindruckt, hätte aber als Pokerspieler versagt.
»Die Mythen waren eins mit der Natur, mit allem, was Leben war. Doch zu oft taten sie Böses. Viel zu oft. Manche stahlen Kinder aus ihren Bettchen, andere fielen arglose Wanderer im Wald an. Wölfe lauerten am Wegesrand, Riesen streiften durch die Lande. Die Menschen fürchteten sich vor den Mythen, und als die Welt zusammenwuchs, weil alles sich veränderte und ganz modern wurde, da erfuhren die Menschen von den unterschiedlichsten Mythen. Sie erfuhren, dass überall Wesen in ihrer Mitte lebten. Es gab Erlkönige, denen die Mythen untertan waren. Es gab sogar Fehden und Kriege zwischen den Erlkönigen.«
Und dann veränderten sich die Zeiten, mehr und mehr. Die Welt änderte Tag für Tag ihr Gesicht.
Maschinen ersetzten Magie.
Wissenschaft ersetzte den Glauben.
»Die Menschen begannen, die Welt, in der sie lebten, zu durchdenken. Sie hinterfragten die bestehende Ordnung. Nichts blieb mehr so, wie es all die Jahrzehnte gewesen war. Die jungen Literaten überall veröffentlichten provokante Denkschriften, in denen sie eine neue Weltordnung befürworteten. Sie schrieben Theaterstücke und Gedichte, die sich allesamt mit der Vernunft auseinandersetzten. Der Staat selbst veränderte sich. Die Monarchie war nicht länger die von Gott und der Natur gegebene Ordnung. Kleinere einzelne Staaten wuchsen zu größeren Gemeinschaften zusammen. Alles, was Irrglaube war, sollte verdrängt werden.«
Leander brachte es auf den Punkt. »Dazu gehörte auch der Glaube an die Magie.«
Andersen nickte. »Die Welt war real. In dieser Wirklichkeit durfte es keine Magie geben. Das Übernatürliche wurde zum Unnatürlichen. Man verabscheute es und fürchtete es, weil es nicht kontrollierbar war.« Mit einem Blick auf Edgar, das Äffchen, fügte er hinzu: »Die Menschen verabscheuen alles, was anders ist als sie.«
Vesper fragte sich, woher das Äffchen wohl kam. »Die Mythen stellten also eine Gefahr dar.« Wenn sie an das dachte, was gerade da draußen in der Welt geschah, zweifelte sie keinen Augenblick daran, dass er die Wahrheit sprach. Die Dinge gerieten außer Kontrolle, alles veränderte sich.
»Die Menschen begannen das Wesen der Natur zu ergründen. Das, was sie nicht verstanden, erfüllte sie mit unbändiger Angst. Die Mythen zogen sich in die Wälder zurück und wurden bösartiger, weil man ihnen ihren Lebensraum nahm. Die Städte wurden immer größer, die Wildnis schrumpfte. Selbst in den bis dahin entlegendsten Gegenden wurden Straßen gebaut. Mit einem Mal gab es detaillierte Landkarten, es gab Vermessungen, die keinen Platz mehr für Geheimnisse ließen, und es gab die neuen Naturwissenschaften und medizinische Fortschritte. Es war kein Platz mehr für die Mythen in der Welt.«
Vesper nickte still. Sie kannte das alles aus der Schule. Die dunklen Wolken aus Aberglaube und Furcht, die sich am Himmel getürmt hatten, wurden durch Licht und die Sonne der Erkenntnis vertrieben. Es klarte auf, sozusagen. Das Zeitalter der Aufklärung war angebrochen. Die Menschen fingen an, sich ihres Verstandes zu bedienen. Immanuel Kant war einer der Vordenker, dem viele nachfolgten. Friedrich Wilhelm II. pflegte Kontakte zu Voltaire; überall kam es zu Reformen.
Vesper ahnte, worauf es hinauslief.
»Die Mythen haben sich gewehrt, habe ich Recht?«
Andersen nickte. »Ja, das haben sie.«
»Wie?«
»Die Mythen wurden bösartig und hinterhältig. Heimlich stahlen die Hexen in der Nacht kleine Kinder und fraßen sie auf. Berichte von umherstreifenden monströsen Gestalten tauchten in den Dörfern auf. Sie machten
sich die dunklen Ecken der Städte zu eigen und bauten dort Nester, von wo aus sie ihre Raubzüge planten.«
»Wir reden hier immer noch von Märchenfiguren?«
Der Fremde schüttelte energisch den Kopf. »Nein, sie waren anders als
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