Grimm - Roman
die Musen?«, wollte Vesper wissen.
»Die Erlkönige«, erklärte Andersen geduldig, »herrschten über die Mythen. Und die Musen waren die Töchter der Erlkönige.«
»Das klingt allerdings wieder sehr märchenhaft.«
»Fast alle Gründerväter der Bohemia hatten Affären mit den Musen. Dadurch erhielten sie die Macht, durch ihre Geschichten die Geschehnisse der Welt zu beeinflussen.«
»Sie meinen, dass die Brüder Grimm, Goethe, Schiller und all die anderen auch, dass sie alle etwas mit den Musen hatten? Ein Verhältnis, etwas in der Art?«
Er schüttelte den Kopf. »Goethe nicht. Die anderen schon.«
»Das ist doch verrückt.«
»Du hast gesehen, was du tun kannst.«
Sie erinnerte sich an die Sache mit den Buchstaben, die den Menschenwolf nahezu aufgefressen hatten. »Aber ich habe keine Ahnung, wie das funktioniert hat. Es ist mir absolut nicht klar, wie ich es gemacht habe!«
»Und was hat es mit den Gegenständen auf sich?«, hakte Leander nach. »Mit dem Ring und der Uhr?«
»Jedes Mitglied der Bohemia «, erklärte Andersen, »besaß einen solchen Gegenstand.«
»Sie auch?«
Er knöpfte sein Hemd am Kragen auf. An einer silbernen Kette baumelte ein Anhänger mit einem grünen Stein in der Mitte um seinen Hals.
»Was ist das für ein Stein?«
Andersen zuckte die Schultern. »Da gibt es viele Geschichten. Manche sagen, er sei aus den Tränen eines Erlkönigs entstanden, andere behaupten, der Traum einer Muse sei zu Stein geworden. Aber der Punkt ist, dass es niemand wirklich weiß.«
»Ach ja?« Noch so ein Geheimnis, das wurde ja immer besser. Vesper reichte es allmählich. Die Enge der Kabine begann mit einem Mal unerträglich zu werden.
»Sicher ist nur, dass die Fähigkeit, die Mythen zu bannen, mit diesem Stein zu tun hat.«
»Und der Tatsache, dass wir alle von den Musen abstammen«, sagte Leander ein wenig spöttisch.
Vesper konnte es sich nicht verkneifen, nach einer weiteren Sache zu fragen.
»Was ist mit dem Gemälde?«
»Dem Eismeer ?« Andersen kannte sich wirklich aus.
»Es scheint ebenfalls eine Bedeutung zu haben.«
»Im Jahre 1805«, erklärte Andersen, »führte Alexander von Humboldt, nachdem er von einer Amerikareise heimgekehrt war, eine Expedition ins Eismeer durch. Niemand weiß genau, was dort geschah. Aber fest steht, dass von Humboldt mit diesem grünen Stein zurückkehrte.«
»Und das Gemälde?«
»Die Expedition endete in einer Katastrophe. Die Hyperion , das Schiff des Wissenschaftlers, ging mit Mann und Maus unter. Das Packeis ließ es nicht mehr los. Nur von Humboldt und einer kleinen Gruppe Überlebender gelang es, das Festland zu erreichen. Halb erfroren kehrten sie zurück und brachten Brocken dieses grünen Steins mit.«
»Die Geschichte wirft mehr Fragen auf, als sie beantwortet.«
»In der Tat«, gab er zu, »das tut sie.«
»Was passierte weiter?«
»Sie fertigten Schmuckstücke an. Uhren, Ringe, An hänger, vieles mehr. Sie zerschlugen den grünen Stein,
schliffen ihn und schufen auf diese Art und Weise eine Reihe von Gegenständen, die von Wert für sie waren.«
»Das, was ich getan habe, konnte ich also vielleicht auch deswegen tun, weil der Ring inzwischen in meinem Besitz war.«
»Du hast es erfasst.«
»Mir brummt der Schädel«, bekannte Vesper.
»Willkommen im Club«, bestätigte Leander. »Sieben Jahre nach der Expedition«, beendete Andersen die Geschichte, die er begonnen hatte, »veröffentlichten die Brüder Grimm die erste Fassung ihrer Hausmärchen. In dieser Zeit verschwanden alle Mythen vom Angesicht der Erde. Seitdem wurden keine Mythen mehr gesichtet. Caspar David Friedrich malte später dann Das Eismeer .« Er faltete die Hände. »Das ist alles.«
»Die Mythen waren also gewissermaßen verschollen.«
»Bis heute.«
Irgendwie hatte Vesper noch immer das Gefühl, nicht die ganze Geschichte zu kennen.
»Und was sollen wir jetzt tun?«, fragte Leander.
Jonathan Andersen lächelte. »Wir gehen ins Refugium in der Speicherstadt.«
Vesper hatte es geahnt. »Und wann?«
Andersen sprang auf, warf sich seinen Mantel über. »Jetzt sofort, würde ich sagen.« Edgar hüpfte ihm mit einem schwungvollen Satz auf die Schulter. Selbst das kleine Äffchen sah unternehmungslustig aus. »Wir haben schließlich keine Zeit zu verlieren.«
Keine Viertelstunde später verließen sie das alte Frachtschiff und machten sich zu Fuß auf den Weg in Richtung Speicherstadt. Dicke Schneeflocken wirbelten in der Luft, und ein
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