Grimm - Roman
eisiger Wind wehte. Der Winter hatte nun endgültig alles, was vor wenigen Tagen noch ein letzter Hauch von sterbendem Herbstland gewesen war, hinweggefegt und die Macht ergriffen.
»Wir müssen vorsichtig sein«, warnte Andersen, »denn ihre Späher können überall sein.« Er ließ seinen Blick auch hinauf zum wolkenverhangenen Himmel schweifen. »Raben, Krähen, vielleicht sogar Möwen.«
»Sie glauben, dass sie uns folgen?«
»Der Menschenwolf, denke ich, hat die Suche noch nicht aufgegeben. Die Mythen werden in jedem Fall in den Besitz der Schlüssel gelangen wollen. Denn nur mit allen drei Schlüsseln ist einem der Zugang zu den Refugien möglich.« Der Wind ließ ihn die Augen zusammenkneifen.
»Warum ausgerechnet drei Schlüssel?«, wollte Leander wissen.
»Drei ist eine magische Zahl.« Jonathan Andersen sah sie ratlos an. »Keine Ahnung, aber damit hat es wohl etwas zu tun. Es sind drei Schlüssel; nicht mehr und auch nicht weniger. So war es schon immer.«
»Es mussten also immer mindestens drei Mitglieder zusammenkommen, um ein Refugium betreten zu können.«
»Ja.«
»Und Sie? Waren Sie schon einmal dort?«
Er zog den Kragen seines Mantels hoch. »Nein, ich habe noch nie irgendein Refugium betreten.«
»Weil nur Sie einen Schlüssel hatten?«
»Es ist komplizierter«, sagte er. Sein Blick schweifte wachsam und unruhig in alle Richtungen.
»Wir haben Zeit. Erklären Sie es uns.«
»Meine Familie wurde aus der Bohemia ausgeschlossen. Vor vielen, vielen Jahren schon. Aber, wie ich bereits sagte, es ist kompliziert.«
Aber dann, dachte Vesper, dürfte er doch gar keinen Schlüssel besitzen. Der Zugang zu den Refugien war doch nur den Mitgliedern erlaubt. Wie war er dann überhaupt an einen Schlüssel gekommen?
»Warum wurden Sie ausgeschlossen?«
Er blieb stehen. »Meine Güte, bist du neugierig.«
»Können Sie es mir verdenken?«
»Nein, eigentlich nicht.«
Er setzte sich wieder in Bewegung. »Angeblich weigerte sich einer meiner Ahnen, die Praktiken der Gesellschaft zu unterstützen. Er wurde um 1810 aus der Bohemia ausgeschlossen. Keiner seiner Abkömmlinge sollte jemals wieder in die Gesellschaft aufgenommen werden. Die Familie Andersen wurde geächtet, könnte man sagen.«
Das, dachte Vesper, geschah bestimmt nicht ohne Grund. »Was hat er denn getan?«
»Das hat mir mein Großvater nie gesagt.« Andersen vergrub die Hände in den Manteltaschen. »Vielleicht hat er es nicht gewusst, aber das glaube ich nicht.« Er deutete mit einem Kopfnicken zu dem Äffchen, das ihm brav auf
der Schulter hockte und seltsamerweise überhaupt nicht zu frieren schien. »Ich weiß nur, dass Edgar hier seit langer, langer Zeit in unserer Familie lebt.« Das Äffchen flimmerte ein wenig, wie ein altes Fernsehbild.
»Das verstehe ich nicht.« Hatte das vielleicht etwas mit dem Rausschmiss zu tun? Es war doch nur ein Äffchen.
»Als ich ein kleiner Junge war«, versuchte Andersen zu erklären, »da stieß ich auf dem Dachboden auf eine Truhe, ein großes, altes Familienerbstück, und in dieser Truhe befanden sich haufenweise Schachteln voller Fotografien, Skizzen und Zeichnungen. Auf vielen dieser Fotografien und Zeichnungen konnte man ein kleines Äffchen erkennen.«
Leander ging rasch neben ihr her. »Edgar?«
Das Äffchen quietschte und nickte.
»Eine dieser Zeichnungen zeigte eine Expedition. Eine Reihe von Männern mit dichten Bärten und Tropenkleidung. Sie standen allesamt am Ufer eines breiten Flusses, irgendwo in einem dichten Dschungel. Hinter ihnen lag ein ausgehöhlter Baumstamm, den sie als Boot benutzt hatten, mit einer Art Blätterdach am Heck. Vier Indianer standen um das Boot herum. Und in einem Käfig, der neben den Forschern stand, hockte ein winzig kleines Totenkopfäffchen.« Er tippte dem Äffchen auf den Bauch. »Eben dieses hier.«
»Edgar.«
Das Äffchen nickte wieder, als würde es der Unterhaltung folgen können.
»Einer der Männer war Alexander von Humboldt.«
»Das sind ja Zufälle ohne Ende«, gab Leander zu bedenken.
Andersen ließ sich nicht beirren. »Später dann, als ich größer wurde, erfuhr ich, dass Alexander von Humboldt im Februar des Jahres 1800 von Caracas aus in das Strombett des Orinoko vorgestoßen und von dort schließlich zum Rio Negro gelangt war, dem er bis zum Amazonas zu folgen gedachte. In seinen späteren Reiseberichten erwähnt von Humboldt kein Äffchen, aber es war auf dieser Zeichnung.«
»Und die Fotografien?«
»Die waren jüngeren
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