Grimm - Roman
Datums. Die ersten waren aus dem Jahr 1910.«
»Mit Edgar darauf.«
Sie erreichten die Niederbaumbrücke.
»Es gibt nicht viele schwarz-weiße Äffchen, die so aussehen wie Edgar.«
»Dessen bin ich mir sicher«, bemerkte Leander.
»Irgendwie«, mutmaßte Andersen, »war das Äffchen in den Besitz meiner Familie gelangt. Wenn man all die Bilder zurückverfolgt, dann sieht man es fast überall. Sechs Generationen meiner Familie haben sich um Edgar gekümmert. Er ist wirklich ein sehr altes Äffchen.«
Vesper staunte nicht schlecht. »Sie wollen damit allen Ernstes sagen, dass Edgar etwa zweihundert Jahre alt ist?«
»Was soll ich sagen, ja. Sieht so aus.«
Edgar blinzelte mit seinen schwarzen Kulleraugen.
»Dafür sieht er sehr jung aus.«
Das Äffchen machte einige Gesten mit den Pfoten.
»Er bedankt sich.«
Leander zwinkerte ihm zu.
»Warum ist er schwarz-weiß?«, fragte Vesper.
»Oh, das.« Andersen konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.
»Ja, er sieht aus wie ein Äffchen aus einem alten Schwarz-Weiß-Film.« Die Bildstörungen inbegriffen.
»Das«, winkte er ab, »ist eine lange Geschichte.«
Und blickte nach vorn. Offenbar verspürte er keinerlei Drang, ihnen diese Geschichte auch noch zu erzählen.
»Nun ja, vielleicht hat einer Ihrer ehrenwerten Ahnen das kleine Äffchen ja gestohlen«, mutmaßte Leander frech.
Doch Andersen schien dieser Kommentar nicht weiter zu verwundern. Er sah den Jungen freundlich an und nickte nur kurz, als wäre Leander auf eine wirklich gute Spur gestoßen.
»Gleich sind wir da!«, verkündete Andersen.
Leander schaute zum Wasser hinaus, wo heute keine Touristen unterwegs waren. Niemand wollte den Hafen besichtigen, wenn die Kinder nicht mehr aus ihrem Schlaf erwachten.
Ja, dachte Vesper, es ist spürbar, dass sich etwas in der Welt verändert hat. Selbst jetzt, in dieser Gegend. »Sie wissen also, wo das Refugium sich befindet.«
»Ja.«
»Und woher?« Der Menschenwolf wusste es offenbar nicht. Und Coppelius war ganz verwundert gewesen, dass sie es nicht gewusst hatte.
»Ich habe so meine Quellen«, antwortete er geheimnisvoll. Dann lächelte er sein entwaffnendes Lächeln, und Vesper fiel es schwer, ihm ob dieser nervigen Geheimniskrämerei böse zu sein.
»Ihre Quellen«, echote sie matt.
Er beugte sich zu ihr, grinste noch breiter. » Gute Quellen«, bestätigte er.
Na, klasse.
Was aber noch lange nicht erklärte, wie er an den Schlüssel für das Refugium gekommen war.
Doch wie auch immer, es galt, keine Zeit zu verlieren.
Und so gingen sie einfach weiter.
»Warum nennt man Sie den Sandmann?«
»Sie haben behauptet, dass meine Familie den anderen Sand in die Augen streut. Wie der Kerl, der einem die Träume beschert. Dass wir alles verfälschen wollen, was richtig ist. Die Andersens seien üble Lügner und miese Verräter, das betonten schon die Brüder Grimm. Ja, es gibt tatsächlich Schriften, in denen es genauso steht.« Er seufzte. »Ich habe allerdings nie wirklich erfahren, was geschehen ist.« Er wirkte nachdenklich. Doch dann grinste er wieder so breit und frech wie immer und sagte: »Aber das Ganze hat auch etwas Gutes. Sie haben mich einfach so übersehen. Niemand war hinter mir her. Während überall Mitglieder der Bohemia ermordet wurden, hat man mich einfach in Ruhe gelassen.« Er schaute lange zu den Lagerhäusern und den Gassen dazwischen. »Ich habe verfolgt, was los war.« Er ließ die Schatten nicht aus den Augen. »Ich habe Zeitungen gelesen und die Fakten kombiniert.«
»Wie sind Sie auf uns gekommen?«
»Maxime Gold lebte in Berlin, und ich war in der Nähe. Es war ein Zufall. Er war das nächstbeste Mitglied, das ich erreichen konnte. Doch leider kam ich zu spät.«
Vesper schluckte.
Die letzten beiden Tage schienen schon viel zu lange Vergangenheit zu sein. Alles passierte so schnell, dass sie das Gefühl hatte, kaum mehr als ein Spielball zu sein, den jeder nach Belieben in eine andere Richtung zu schießen vermochte. Dies hier war nicht ihr Spiel, sie war in das Spiel anderer hineingezogen worden, und nun gehörte sie zu denen, die wie kopflos nach vorn stürmten und den Sieg zu erringen versuchten. Ohne zu wissen, wie der Sieg aussehen würde, dachte sie gallig.
»Wissen Sie, was passiert ist?«, fragte sie schließlich. Die Frage kostete sie mehr Mut, als sie zuerst gedacht hatte.
»Ich weiß nur, dass die Wölfe ihn auf dem Gewissen haben.« Er schüttelte traurig den Kopf. »Ich habe es aus den Medien
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