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Grimm - Roman

Titel: Grimm - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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Augen. »Und?«
    Sie gingen weiter den Sandtorkai entlang.
    »Ich habe jemanden gekannt«, sagte Andersen dann schließlich doch noch, »jemanden, der sich …« Er seufzte, und sein Blick suchte schönere Tage, irgendwo hoch oben im wolkenverhangenen Himmel über den Dächern der gewaltigen Lagerhäuser. »Jemanden, der sich auskannte. Sich besser damit auskannte als ich.«
    »Und der Anhänger?«
    »Das ist auch eine lange Geschichte.« Er stockte. »Eine traurige Geschichte.«
    Vesper hielt seinem Blick stand. Es war nicht einfach, aber sie schaffte es.
    »Kommt!«, lenkte er ab und ging weiter voran.
    Vesper und Leander tauschten vielsagende Blicke.
    Eine traurige Geschichte? Vesper hätte lügen müssen, um die Neugierde, die in ihr aufflammte, zu verbergen.
    Stattdessen sah sie sich um. Sie war früher schon einige Male hier entlanggewandert.
    Die alten Lagerhäuser mit ihren roten Backsteinwänden und der neugotischen Bauweise hatten allesamt auf der einen Seite eine Anbindung ans Wasser, auf der anderen Seite mündeten sie in der Straße. An den spitzen hohen Hausgiebeln waren Seilwinden montiert, die es mühelos
ermöglichten, die Waren vom Schiff in eines der fünf Stockwerke zu hieven.
    »Dort drüben befindet sich das Gewürzmuseum«, las Leander laut ein Schild. Es war unschwer zu erraten, dass er ans Essen dachte.
    Und Vesper stellte sich vor, wie es früher wohl hier ausgesehen hatte. Waren aus Übersee trafen den ganzen Tag über und selbst in den Nächten ein, in Schiffen mit hohen Masten und mächtigen Segeln. Die Bäuche der Schiffe waren randvoll mit erlesenen Gütern gefüllt. Es roch nach heißem Süden und fernem Orient, nach Zimt, Kaffee und Orangen. Die starken Kräne hievten die Lasten hoch empor, und unten lärmten die Arbeiter. Pferde zogen Karren durch die Straßen, überall waren Menschen, die ihrem Tagwerk nachgingen. Ein zollfreier Hafen, neutrales Gebiet, das nicht zur Zollunion gehörte.
    Ein bedeutsamer Knotenpunkt, der bestimmte, was in der Welt geschah. Hier kreuzten sich Wege aus allen Teilen der Welt. Hamburg war das Tor hinaus in die Welt. Wer das Land verlassen wollte, tat es zumeist auf diesem Wege.
    Und heute?
    Die hohen Lagerhäuser waren noch immer da. Zwischen ihnen flossen, wie damals auch, die Fleete, die bei Ebbe ganz schlammig waren, doch bei Flut reichte das Wasser hoch hinauf, und selbst große Schiffe mit Tiefgang konnten die Wege befahren.
    »Das ist es!« Jonathan Andersen führte sie zu einem alten Haus aus rotem Backstein, das die üblichen fünf
Stockwerke in den Himmel ragte. Die kahlen Bäume, die Teile der Front verdeckten, sahen im Vergleich dazu geradezu winzig aus, wie filigrane Spielzeuge in einem Miniaturland.
    »Sieht aus wie alles andere auch.« Leander betrachtete die Fassade. »Wirklich gute Tarnung.«
    Sie standen ein wenig ratlos vor der Treppe, die zum Eingang hinaufführte.
    Das Haus hatte die Nummer 3.
    Die andere Ziffer, die irgendwann dort gehangen haben musste, war abgebrochen. Jetzt gab es nur die 3, was auch irgendwie passte.
    »Drei«, stellte Leander fest. »Wunderbar.« Er lief als Erster die Treppenstufen hinauf und betrachtete die Tür. »Drei Schlösser, in der Tat.« Er klopfte gegen das Holz, drehte sich zu ihnen um, sagte: »Keiner da.«
    Jonathan Andersen war der Zweite, der die Treppen hinaufstieg. »Jeder muss seinen Schlüssel benutzen.«
    So weit, so einfach, dachte Vesper.
    Die Tür sah wie eine normale Haustür aus, altmodisch und hölzern.
    Jonathan Andersen sah sich vorsichtig um. »Die Mythen wollen nichts mehr, als diesen Ort hier entdecken.«
    »Aber warum?« Was war so bedeutsam an diesem Haus? »Ehrlich gesagt, ich habe keine Ahnung. Vermutlich erhoffen sie sich tiefere Erkenntnisse über die Bohemia .«
    Vesper sah ihn an, skeptisch, noch immer. Zu viele Puzzlestücke fehlten in dem Bild, das sich ihr bot. Nein, ihr gefiel das gar nicht.

    »Ich weiß es wirklich nicht«, betonte Andersen erneut und brachte es auf den Punkt: »Aber wenn die Mythen scharf darauf sind, dieses Refugium zu finden, dann ist das, glaube ich, Grund genug für uns, das Refugium vor ihnen zu finden.«
    Das war einleuchtend.
    Vesper stieg nun rasch ebenfalls zur Tür empor.
    Jeder zog seinen Schlüssel aus der Tasche. Sie steckten ihre Schlüssel in die Schlüssellöcher. Drehten sie um.
    Vesper erwartete irgendetwas Magisches. Ein sanftes Leuchten, ein Summen, irgendwas. Doch nichts davon geschah. Da war nur ein dreifaches Klicken zu

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