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Grimm - Roman

Titel: Grimm - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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fertig machen«, schlug Vesper vor und deutete auf das Kleid.
    »Das würdest du tun?«
    »Hätte ich sonst gefragt?!«
    Ida sprang auf sie zu und umarmte sie. »Du bist schon wieder meine Retterin.«
    Vesper zwinkerte Greta verschwörerisch und freudig zu, und die Kleine zwinkerte munter zurück.
    »Ich sehe dich«, verabschiedete sich Vesper von dem Mädchen.
    »Nicht wenn ich dich zuerst sehe«, antwortete Greta. Dann verließen Mutter und Tochter das Theater. Vesper indes dachte daran, wie gern sie früher die kleine Schwester gewesen war - und wie schnell sich Dinge im Leben ändern konnten, wenn man nicht damit rechnete.
     
     
     
    Sie arbeitete noch geschlagene zwei Stunden an dem eleganten Kleid, das für die boshafte sexy Königin, die in dieser Version von Rosenrot vorkam, bestimmt war, und ging dann allein ins Fackelholz , eine düster heimelige Szenekneipe
in der Nähe der Überseebrücke, wo sie sich ein schnelles Abendessen gönnte.
    Über dem Tresen flimmerten tonlos Musikvideos im Fernseher. Die Luft war erfüllt von Stimmengewirr und einem Lied von Rufus Wainwright. An den Wänden hingen alte Seefahrerbilder, und von der Decke baumelten zwei große Miniaturwindjammer.
    Vesper mochte das Fackelholz .
    Hier konnte man in aller Ruhe abhängen, ohne dass einen die anderen Gäste komisch ansahen. Meistens traf man auf das eine oder andere Gesicht, das man von anderen Tagen kannte. Es bahnten sich kurze Gespräche an, belanglos und so erfrischend wie unverbindlich. Man war freundlich zueinander, darauf kam es an. Es war ein Ort, an dem man gut in Gesellschaft allein sein konnte, wenn man es wollte.
    Außerdem wohnte sie keine fünf Minuten von hier entfernt.
    Vesper las ein wenig in einem alten Taschenbuch, das ihr Vater ihr geschenkt hatte, als sie Berlin den Rücken zugekehrt hatte, und ließ sich von den Geräuschen der Kneipe an ferne Gestade schwemmen. Sie wollte einfach noch nicht nach Hause gehen und allein sein. Wie gesagt - sie zog es vor, in Gesellschaft allein zu sein.
    Sie nippte an ihrem Tee.
    Schnupperte an dem Roman.
    Der Schimmelreiter von Theodor Storm.
    Ihr Vater hatte das Buch aus dem Regal gezogen und ihr zugesteckt, als sie, beladen mit Koffern, das Haus in Berlin
verlassen und mit ihr Mutter nach Hamburg gezogen war.
    Es kam ihr vor, als sei es erst gestern gewesen.
    »Vielleicht gefällt es dir ja«, hatte er gesagt, und Vesper hatte sich gefragt, ob er das Buch oder die neue Stadt meinte.
    Es war eine alte Taschenbuchausgabe mit handschriftlichen Anmerkungen, die Maxime Gold zwischen die Sätze gekritzelt hatte, als er selbst kaum mehr als ein Schüler gewesen war. Das Papier war schmutzig und gelb, und es roch so stark nach Staub und den Jahren, die es einsam zwischen all den anderen Büchern verbracht hatte, dass es beinahe schon wie eine Antiquität anmutete.
    Fast eine ganze Stunde ging ins Land.
    Vesper bestellte sich noch einen Milchkaffee, nippte langsam daran, tunkte den Keks mehrmals hinein und ließ sich von der Geschichte in ihren Bann ziehen. Sie dachte hin und wieder an den seltsamen Mann, den sie viel zu oft gesehen hatte, als dass es sich um einen reinen Zufall handeln konnte.
    Sie starrte gedankenverloren auf den Fernseher, wo Patti Smith, wie die Einblendung zeigte, Everybody Wants to Rule the World sang. Der Raum aber war erfüllt von Bells on the River , gesungen von Jeffrey Lee Pierce. Dann versank sie wieder in der Geschichte um den Deichgrafen, entsann sich des Geruchs, der vom Hafen her durch die Straßen der Stadt wehte, und redete sich ein, dass dies jetzt unwiderruflich und zweifelsfrei ihr neues und zukünftiges Zuhause war.

    Als sie fast die Hälfte des Taschenbuchs gelesen hatte, wurde sie von einer näselnden Stimme aus den Gedanken gerissen.
    Sie hob den Blick und sah zwei aufgetakelte Mädchen vor ihrem Tisch stehen; zwei Mädchen, die ihr ein laues Lächeln schenkten, das so falsch war wie die Fingernägel und die Wimpern, die billiger aussahen, als sie es waren.
    »Wenn das nicht Vesper Gold ist«, sagte die eine.
    »Unsere neue beste Freundin.«
    Die beiden hatten ihr gerade noch gefehlt. Was machten die hier? »Ich freue mich auch, euch zu sehen.«
    Die beiden ungebetenen Gäste hoben unisono die Hände und sagten in einem schrillen Tonfall »Hi!«, als seien sie einer dieser schrecklichen amerikanischen Serien entsprungen.
    »Ich dachte, du hättest eine Verabredung.« Das war Julia Finn. Blond, dünn, geschminkt und essgestört. Ihr Freund

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