Grimm - Roman
starrte ihn fassungslos an. »Oh, Mann«, flüsterte sie. »So ein Mist.« Bewegen konnte sie sich nicht. Sie saß nur da und spürte, wie ihr etwas den Hals zuschnürte. Es war, als zöge sie jemand an einen dunklen Ort, ganz tief dorthin, von wo es kein Entrinnen gab.
»Sie glauben, dass es ein Unfall war oder so was.«
Oder so was ?
Stefan hielt ihre Hände ganz fest in den seinen. Seltsamerweise fragte sie sich in diesem Moment, ob er seinen Freund auch so an den Händen hielt, wenn er bei ihm war.
Oh, Gott.
Maxime.
Vesper erinnerte sich an verzerrte Bilder, an die sie lange schon nicht mehr gedacht hatte. An all die schönen Dinge aus ihrer Kindheit, von denen sie nicht einmal mehr wusste, ob sie sich auch genauso zugetragen hatten. Sie hörte die Stimme ihres Vaters, wie sie Geschichten erzählte.
Dem kleinen Mädchen, das allein auf der Bettkante saß und sich vor der Dunkelheit fürchtete.
Sie rang nach Luft, spürte eine unglaubliche Last auf ihren Brustkorb gesenkt.
Mit einem Mal wurde die ganze Welt um sie herum zu einem Teppich aus Geräuschen und matten Tönen.
Nur von Ferne drangen die Stimmen zu ihr, wie wispernde Verwünschungen und verwischte Farben.
Sie sah genau, wie sich Stefans Mund bewegte, doch sie konnte die Worte nicht hören.
Sie erkannte all die spitzen Bartstoppeln in seinem Gesicht, bemerkte das Mitleid und die tiefe Sorge um sie in seinen Augen.
Maxime Gold.
Tot.
Dieses eine Wort, laut wie eine Explosion, die alles im Leben zerriss und die Fetzen durch die Nacht wehte.
Warum hat Margo sich nicht gemeldet?
Nur diese Frage, wie ein Fragment, so dürftig und allein.
Weiß sie es noch nicht?
Wo steckt sie nur?
Vesper schüttelte nur den Kopf, wieder und wieder. Dann ließ Stefan sie los. Sie packte wortlos ihr Zeug zusammen, legte Geld auf den Tisch, band sich den Schal um. Sie tat all das mechanisch und wusste nicht einmal, wie sie es schaffte, allein aufzustehen.
Tot.
Einfach so.
Ein Schwindel packte sie und ließ sie nicht mehr los.
Selbst Julia und Saskia hielten die Klappe.
Was jetzt?
Krämpfe schüttelten sie innerlich.
Was, in aller Welt, mache ich jetzt?
Und schließlich nur noch ein einziges kleines Wort in einer schmerzhaften Endlosschleife …
Warum?
Warum?
Warum denn nur?
Alles das, all die Fragen und Wortfetzen, sie verschwammen in ihrem Hirn.
Vesper spürte, wie ihr Herz pochte und ihr schwindelte, mehr und mehr.
Nein, das konnte nicht sein, oder?
Ihr Vater war doch gesund, und es ging ihm gut.
Erst vorgestern hatte er ihr noch ein Bild geschickt. Seine derzeitige Freundin hatte es aufgenommen. Maxime Gold, wie er in einem Korbstuhl saß und ein Buch las.
»Vesper, was wirst du jetzt tun?« Stefan berührte sie an der Schulter. »Kann ich etwas für dich tun?«
Sie wusste, dass sie jetzt noch nicht weinen konnte.
Nein, sie konnte nur den Kopf schütteln, das war alles. Sie legte ihre Hand kurz auf Stefans Hand, stand auf, drängte sich durch die Masse der Gäste, taumelte zum Ausgang und verließ das Fackelholz , um erst einmal verzweifelt kopflos vom Weg abzukommen, mitten in der Nacht und verweht im grauen Novemberregen.
Die Welt drehte sich wie ein Wirbelwind im Herbstland, nichts war mehr dort, wo es hingehörte.
Vesper taumelte in das nächste Internetcafé und fand die aktuelle Schlagzeile in den Nachrichten. Die Informationen wehten an ihr vorbei wie die vielen bunten Blätter, die ebenfalls durch die Nacht irrten, verloren und hilflos.
Es war einmal …
Diese Worte kamen ihr wieder und wieder in den Sinn.
Es war einmal …
So hatten die Märchen ihrer Kindheit begonnen. Die Stimme, die diese Worte gesprochen hatte, war dunkel und rau gewesen, voll Weisheit und Ruhe, wie Holz, das einst, als es noch jung war, das lodernde Feuer gekostet hatte und vom Kuss des kühlen Wassers erlöst worden war. So viele Geschichten hatte diese Stimme ihr erzählt, und nun war sie verstummt, einfach so.
Seit Wochen schon hatte Vesper die Stimme ihres Vaters nicht mehr gehört, und nun würde sie es nie wieder tun.
Regisseur tot in seiner Wohnung aufgefunden.
So klang es, wenn sich ein Leben in Schlagzeilen präsentierte. Fremd, fern, und doch nah wie eine Klinge, die tief ins Fleisch schneidet und das, was einem einst ein Herz war, offenlegt. Doch keines der Gefühle, die eine Tochter in einem Augenblick wie diesem empfinden sollte, drang wirklich bis hinauf an die Oberfläche. Sie waren verschüttet, all diese Emotionen, tief
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