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Grimm - Roman

Titel: Grimm - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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war eine winzige, mit Büchern vollgestopfte Kammer oben unter dem Dach, wo er in Ruhe arbeiten konnte, als wir Kinder klein waren.«
    Vesper versuchte den Menschenwolf hinter dem jungen Mann zu erkennen, aber er war fast durchscheinend hinten an der Wand.
    Wie machte er das bloß?
    »Ich habe«, brachte es der junge Mann, dessen Name bisher noch nicht gefallen war, auf den Punkt, »wie bereits erwähnt, nur einen Brief erhalten, das ist alles.«
    Er lügt, dachte Vesper mit einem Mal. Mit einer Stimme, die ihr irgendwie bekannt vorkam.

    Er lügt.
    Das dachte sie, weil sie das Gleiche getan hätte.
    Kauf dir einen bunten Luftballon.
    Sang Alda Noni.
    Die Schallplatte, die kratzte, musste doch irgendwann zu Ende sein …
    » Sie, Herr Coppelius, sind, glaube ich, derjenige, der mir die Dinge erklären muss.«
    Womöglich spürt er, dass etwas nicht in Ordnung ist.
    Dass der Mann, der vor ihm steht, ein wenig seltsam wirkt.
    Vesper war sich plötzlich sicher, dass er sowohl die angesprochene Uhr als auch den Schlüssel bei sich trug - oder beides zumindest erhalten hatte. Dennoch verriet er der Kreatur davon nichts.
    Das Coppelius-Ding stand folglich ein wenig ratlos im Wohnzimmer herum.
    Die Augen des Menschenwolfs funkelten rot und voller Ungeduld.
    Plötzlich drehte sich der junge Mann auf dem Absatz um und sah dorthin, wo die unsichtbare Kreatur hockte.
    »Ich kann Sie sehen«, bekannte er.
    Der Menschenwolf, der jetzt aus der Unkenntlichkeit trat, wirkte überrascht und wütend. »Wir sind uns nie zuvor begegnet«, knurrte er, und die Konturen, die undeutlich die eines reinen Wolfs gewesen waren, wurden mit einem Wimpernschlag zu denen eines hochgewachsenen Menschenwolfs. »Doch glaube ich, mein junger Herr, dass Sie besagte Uhr bei sich tragen. Und ebenso den Schlüssel zum Refugium.«

    »Ich weiß nicht, was das Refugium sein soll.«
    »Nur deswegen, müssen Sie wissen, sind wir hier.« Der Menschenwolf kam näher.
    Vesper spähte an dem Pendel vorbei und bemerkte den festen Griff des Gasts um den Gehstock.
    »Wegen einer Uhr und eines Schlüssels? Deswegen sind Sie hier?«
    »Deswegen, ja«, lachte der Menschenwolf, »und um Sie zu töten.«
    Der junge Mann schwieg. Schließlich fragte er: »Warum?«
    »Warum was ?«
    »Warum wollen Sie mich töten?«
    »Weil Sie einer von ihnen sind.«
    Vesper zuckte zusammen. Da! Die gleiche Antwort, die der Wolf auch ihr gegeben hatte.
    »Sie haben meinen Vater getötet.«
    »Ich habe Ihren Vater nie getroffen.«
    »Aber Sie stecken dahinter.«
    »Das Rudel ist groß«, war alles, was er antwortete.
    »Aber …«
    »Ich werde Sie fressen, mit Haut und Haaren, könnte man sagen«, stellte der Menschenwolf sachlich fest, »und wenn Sie uns nicht helfen, dann wird es jemand anders tun.«
    »Wobei soll ich Ihnen helfen? Und wer ist dieser andere?«
    Der Menschenwolf lachte boshaft. »Die Bohemiens haben alle fleißig Briefe verschickt. Früher oder später wird jemand auftauchen, der uns zum Refugium führt. Auch
wenn die meisten der Bohemiens selbst nicht mehr unter uns weilen.« Er lächelte süffisant. »Ich bin nicht der einzige Wolf, der durch die Nacht streift, könnte man sagen.«
    »Wie beruhigend.«
    »Jedenfalls sind wir, wie ich eben bemerkte, auf der Suche nach dem Refugium.«
    »Ich sagte bereits, ich weiß nichts von einem Refugium.«
    »Aber von einer Uhr.«
    »Auch nicht von einer Uhr. Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden.«
    »Es gibt eine Uhr und einen Ring. Beides, so möchte ich es ausdrücken, sollte bald schon in meinen Besitz gelangen. Denn schon bald werden sich die Dinge ändern.« Er lachte genüsslich und wissend. »Sie haben ja keine Ahnung, wie sehr sich die Dinge ändern werden.«
    Das Coppelius-Ding schlurfte zur Tür und versperrte den Weg nach draußen.
    Wir sind hier!
    Die Nachricht aus den Träumen.
    Mit einem Mal wunderte Vesper sich, warum der Fremde das Auftauchen des Menschenwolfs so bereitwillig akzeptieren konnte. Er wirkte gefasst, wenngleich nicht unbedingt vorbereitet auf diesen Anblick. Aber eben auf keinen Fall wie jemand, den das Auftauchen eines Wolfs überraschte.
    »Sie sind nicht so klug, wie Sie glauben«, sagte der Menschenwolf drohend und trat einen weiteren Schritt auf den jungen Mann zu. »Sie haben mich dort in den Schatten
erblickt. In der Tat, Sie sind geschickt. Und wenn Sie das sind, dann wissen Sie auch, wo sich das Refugium befindet.«
    »Wesen wie Sie haben meinen Bruder auf dem Gewissen«, sagte der

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