Grimm - Roman
Fremde.
Vesper musste wieder an Amalia denken - Es ist alles wahr! - und empfand augenblicklich so etwas wie Sympathie für den Fremden.
Der Menschenwolf legte den Kopf schief. »Davon weiß ich nichts.«
»Alle haben mich damals, als es passiert ist, für verrückt erklärt, als ich ihnen davon berichtet habe. Doch jetzt bin ich froh, Sie hier zu treffen.«
»Ich werde Sie fressen.«
»Immerhin sind Sie der Beweis dafür, dass ich nicht verrückt bin.« Der junge Mann wirkte trotz seiner nach außen zur Schau getragenen Lässigkeit angespannt. »Das, was ich damals gesehen habe, war keine Einbildung.« Er umfasste den Griff des Gehstocks ganz fest. »Ich sollte Ihnen dafür danken.« Er hob den Gehstock. »Doch in einem muss ich Sie enttäuschen.« Er ging einen weiteren Schritt nach hinten, seine Schritte waren deutlich zu hören.
Der Menschenwolf folgte ihm, genüsslich langsam, wie ein Raubtier, das sich auf die Beute freut.
»Ich werde mich natürlich nicht von Ihnen fressen lassen.« Der junge Mann schüttelte den Kopf, und das wild zerzauste Haar führte einen seltsamen Tanz auf. »Absurder Gedanke, so was.«
Der Menschenwolf schien amüsiert. »Sie haben gar keine Wahl, mein junger Herr.«
»Jeder hat eine Wahl, immerzu.«
»Sie nicht.«
Der Menschenwolf machte sich zum Sprung bereit.
Vesper drehte sich, sodass sie die Silhouetten der beiden ein wenig besser erkennen konnte.
Tick, tack,
tick, tack.
Ein Knurren zerriss die Stille.
Ehe der junge Mann etwas tun konnte, war die Kreatur über ihm. Sie wurde, während sie sprang, wieder zum reinen Wolf. Der junge Mann wollte sich mit dem Gehstock verteidigen, doch riss ihm der Wolf den Stock so schnell aus der Hand, dass Vesper die Bewegung nicht einmal hatte sehen können. Polternd fiel der Gehstock zu Boden, rollte über den Teppich und blieb am Fuß der Standuhr liegen. Erschrocken und fluchend schrie der junge Mann auf, doch das Fauchen der Kreatur übertönte jedes andere Geräusch im Raum. Beide gingen sie zu Boden, und Vesper konnte nicht mehr sehen, was jetzt geschah.
Da waren nur ein Knurren und das Keuchen des jungen Mannes.
Das Uhrwerk.
Tick, tack.
Das Coppelius-Ding indes regte sich noch immer nicht, stand nur abwartend im Türrahmen und schwieg in stiller Lethargie. Es schaukelte mit dem Kopf, als habe es den Verstand verloren.
Der junge Mann, das konnte Vesper den Geräuschen entnehmen, wehrte sich verzweifelt, während der Menschenwolf ihn scheinbar mühelos zu Boden drückte. Vesper konnte die zappelnden Beine des Fremden erkennen.
Vesper zitterte am ganzen Leib.
Nein, so durfte es nicht enden!
So nicht.
Das unablässige leise Ticken der Standuhr wurde schnell lauter als ihr eigener Herzschlag. Es tat ihr weh, dem Rhythmus lauschen zu müssen. Er war wie eine Anklage gegen jede Art von Feigheit. Die Schwingungen des Pendels in der Stille waren wie schnelle Schnitte mit einem Messer, das die Haut ritzt.
Tick, tack.
Nein, nein, nein!
Der junge Mann, das spürte sie, war auf ihrer Seite. Zumindest hatte er den Wolf belogen. Er wusste etwas von dem Ring und der Uhr und dem Schlüssel. Er hatte erwähnt, dass auch sein Vater gestorben war. Und der Menschenwolf hatte, wie Coppelius vorhin, jene Bohemia erwähnt. Welches Rätsel es auch immer zu lösen galt, der junge Mann war ein Teil davon. Ebenso, wie Vesper ein Teil dieses Geheimnisses war.
Tick, tack,
tick, tack …
Vesper ballte die Fäuste. Sie spürte den Ring an ihrem Finger.
Sie musste etwas tun.
Tick, tack, tick, tack, tick, tack …
Das Pendel schwang unablässig vor ihr hin und her, zerteilte die Wirklichkeit in kleine Stücke Furchtsamkeit.
Der Menschenwolf war dem Fremden, das spürte Vesper, obwohl sie nicht alles sehen konnte, ganz nah. Sie wusste, dass er nicht lange mit ihm spielen würde. Diese Kreatur war ein Jäger, sie war boshaft und hungrig, und es gierte sie nach dem Leben, das ihre Fänge und Krallen so scheinbar mühelos zu nehmen verstanden, wann immer es ihnen beliebte.
Tick, tack, tick, tack …
Vesper konnte nicht sagen, warum sie die Standuhr verließ, doch sie tat es.
Mutige Prinzessin.
Einfach so.
Als hätte Amalia es damals geahnt.
Sie war noch nie besonders wagemutig gewesen, aber manchmal gab es Augenblicke, in denen man dumme Dinge tat, weil es einfach nicht besonders schwierig war, diese dummen Dinge zu tun. Man dachte nicht an die Konsequenzen, die überaus schlimm sein konnten und eine Tragweite besaßen, die man selbst
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