Grimm - Roman
still!« Sie hob gebieterisch die Hand, spitzte die Ohren, lauschte.
»Er kommt. Ich kann ihn hören. Er kommt die Treppen am Ginsterbusch hinauf.«
Vesper hatte keine Ahnung, von wem er sprach.
Der Menschenwolf konnte einen nahenden Gast hören, doch aus einem Grund, der ihr vielleicht entgangen war, konnte die Kreatur das in der Standuhr verborgene furchtsame Mädchen nicht wittern. Sie hatte keine Ahnung, warum sie dieses Glück hatte, aber am Ende, auch das wusste sie, war es egal. Sie blieb vorerst unentdeckt, nur das zählte.
Dann fiel ihr Blick durch das Fenster hinter den beiden ungebetenen Gästen. Sie konnte den gewundenen Gartenweg erkennen, das ganze Stück zwischen den Büschen hindurch bis hin zum niedrigen Gartentor. Nur unterbrochen vom Schwung des Pendels, wurde sie dort einer weiteren Gestalt gewahr.
Sie war hager und trug einen dunklen Mantel, mehr war nicht zu erkennen. In der Hand hielt sie etwas. Einen Gehstock, vielleicht. Sie besaß kaum Ähnlichkeit mit der Gestalt, die ihr gefolgt war. Keine Silberknöpfe am Mantel, zumindest sah sie keine.
Als die Gestalt das Gartentor öffnete, schnellte der Kopf des Menschenwolfs herum und starrte aus dem Fenster.
»Heiße ihn willkommen«, knurrte er.
Das Coppelius-Ding nickte. Es bückte sich und zerrte den Leichnam des alten Mannes schnell in die Küche. Dann schloss es die Tür und schlurfte hinaus aus dem Raum und murmelte dabei fortwährend: »Friedrich Coppelius ist mein Name - und wer sind Sie?«
Vesper fragte sich, wer der Mann da draußen sein mochte. Gehörte er zu der Kreatur, war er womöglich sogar ihr Gebieter? Oder war er ein argloser Besucher, der nur zufällig hier vorbeikam?
Dummes Zeug, schalt sie sich selbst.
Wie konnte sie das nur annehmen?! Kein Mensch verirrte sich zufällig in diese Gegend.
Dennoch schien sich der Fremde nicht auszukennen. Er las erneut das Schild am Gartentor, kramte einen Zettel aus seiner Manteltasche hervor.
Er ist zum ersten Mal hier, wie ich, durchfuhr es Vesper. Er hat sich einfach nur vergewissert, dass er beim richtigen Haus angekommen ist. So, wie ich es eben getan habe. Er will mit Friedrich Coppelius sprechen, warum auch immer, und er hat keine Ahnung, was da hinter der Tür auf ihn lauert.
Am liebsten hätte sie lauf aufgeschrien.
Was sollte sie denn nur tun?
Aus ihrem Versteck in der riesigen Standuhr herausspringen und sich dem Menschenwolf entgegenstellen?
Meine Güte, sie hätte nicht den Hauch einer Chance!
Aber was war die Alternative?
Sie würde warten, bis der ahnungslose Mann da draußen die Tür erreichte, klingelte, eintrat. Das PflanzenDing würde ihm öffnen und ihn hier willkommen heißen, wie es die Kopie ihrer Mutter gestern in der Villa mit ihr getan hatte, und dann, wenn er eingetreten war, ja, dann würde etwas wirklich Schlimmes geschehen.
Sie schluckte.
Ihre Hände begannen zu zittern.
Hans Moser sang Sag beim Abschied leise Servus .
Na, klasse!
Trotzdem - sie musste jetzt ruhig bleiben. Hatte der alte Mann vorhin nicht erwähnt, dass sie nicht das einzige Waisenkind war, das derzeit durch die Welt irrte?
Was genau hatte er damit gemeint?
Denk nach! Denk nach!
Sie stellte sich die falschen Fragen. Ja, es musste einen Grund für all das geben.
Doch welcher konnte dies sein?
Sie dachte an ein anderes Lied von Billy Talent.
I’ve got the devil on my shoulder … over and over,
And I just can’t sink any lower … lower and lower.
Der Menschenwolf riss sie aus ihren Gedanken.
Er erhob sich aus dem Sessel und ging in die Hocke, wurde noch unschärfer, und nachdem Vesper einmal geblinzelt hatte, sah sie einen zottigen Wolf, ein böses, gewaltiges Tier, das dem mit Tusche gezeichneten Wolf aus dem Kinderbuch, das sie all die Jahre über begleitet hatte, erschreckend nahe kam. Aus ihrem Versteck heraus bemerkte sie, dass er tatsächlich nicht wie ein richtiger Wolf aussah. Nein, eher so, wie ein Kind, das sich aufs ärgste fürchtet, sich einen bösen Wolf vorstellt, wenn es allein in seinem dunklen Zimmer liegt und nicht einschlafen kann, weil die Äste eines Baumes am Dach entlangschaben und Geräusche machen wie ein Raubtier beim Fressen.
Der große Wolf trabte gemächlich in die Ecke gegenüber der Standuhr, wo er sich niederkauerte und einfach nur wartete. Seine Gestalt verschmolz fast mit dem Hintergrund, der matten Tapete, dem Teppich, den Farben der Möbel - und wenn man sich nicht darauf konzentrierte, ihn dort sehen zu wollen, dann sah man
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