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Grimm - Roman

Titel: Grimm - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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sei dort eine ungeheuere Hitze am Werk.
    Vesper wagte es nicht, sich zu rühren.
    Sie dachte an ihre Mutter, wie sie tot in dem Klavier lag, und zitterte am ganzen Leib.
    Was ging hier nur vor?
    Dass die dunkle Gestalt der Verfolger vom Vortag war, stand für sie nun außer Frage.
    Doch was war das für ein Pflanzending?
    Die Gestalt am Boden drehte sich, rollte zur Seite, sodass Vesper nicht mehr sehen konnte, wie sie sich veränderte, wurde fester. Der Menschenwolf trat jetzt zwischen die Standuhr und das Ding am Boden; sein
massiger Leib nahm Vesper die Sicht auf das, was dort geschah.
    Erst als die Kreatur weiter um das Pflanzending herumging, erkannte Vesper den nackten Körper eines alten Mannes, der zusammengekrümmt und bebend auf dem Teppich lag. Schließlich erhob er sich mithilfe des Menschenwolfs, langsam und ein wenig wankend. Mit beiden Händen stützte er sich an der Tischkante ab. Sein Gesicht war vor Anstrengung verzerrt.
    Er blieb vor dem Menschenwolf stehen und wurde begutachtet.
    Friedrich Coppelius.
    Er stand dort, als sei er nie tot gewesen.
    »Zieh dir was an«, knurrte die tiefe Stimme des Raubtiers.
    Und der alte Mann schlurfte durch das Haus. Leblos und doch lebendig, eine Kopie, die atmete. Eine Marionette, die den Weisungen ihres Gebieters gehorchte, komme, was wolle.
    Vesper erstarrte immer mehr. Ihre Glieder begannen zu schmerzen, die Hitze in der Standuhr wurde immer unerträglicher. Sie hatte Angst, und diese Angst war die Furcht, die ein Kind verspürt, wenn es allein in einen tiefen, dunklen Keller hinabsteigen muss. Es sieht die lange Treppe hinab und weiß um die Dinge, die sich dort unten verbergen. Es weiß um all das, was den Augen der Erwachsenen verborgen bleibt.
    Doch dies hier war kein Keller.
    Sie war in keinem Traum gefangen.

    Alles, was sie sah, passierte wirklich. Es geschah jetzt. Und sie, Vesper Gold, war mittendrin.
    Mein Gott, schrie es in ihr, es hat ihn kopiert!
    Friedrich Coppelius.
    Sein Leichnam lag noch immer da, wo die Pflanze von ihm getrunken hatte.
    Vesper hätte am liebsten geschluchzt und geweint vor Angst, doch war sie zu starr und gelähmt, um irgendetwas anderes zu tun, als still in der Standuhr zu verharren.
    Das Gleiche wie Herrn Coppelius war offenbar ihrer Mutter widerfahren. Der Menschenwolf war in die Villa am Theresiensteg gekommen und hatte sie ohne Vorwarnung getötet, und das Pflanzending hatte das Blut ihrer Mutter getrunken und war anschließend zu einer Kopie herangewachsen.
    Der Menschenwolf setzte sich an den Schreibtisch, mit dem Rücken zur Standuhr.
    Vesper konnte sein Gesicht nicht erkennen. Doch insgeheim wusste sie, dass, selbst wenn sie es sähe, es kaum ein Gesicht wäre, weil es bei diesem Menschenwolf keine festen Konturen zu haben schien. Es sah aus, als würde der Wolf durch eine dünne Menschenhaut schimmern. Als sei er allzeit in Bewegung, ja, genauso sah es aus, sogar von hinten. Schwierig zu betrachten, wie eine Fata Morgana, die unruhig flimmernd am Horizont steht.
    Er las weitere Artikel. Dabei summte er mit tiefer Stimme zu der Melodie von der Schallplatte.

    Dann, nach lähmenden Minuten, die Vesper wie endlose Stunden vorkamen, kehrte das Ding zurück.
    Es sah aus wie Friedrich Coppelius, jetzt konnte sie es besser sehen als vorhin. Es war perfekt, in jedem Detail. Sogar die buschigen Augenbrauen hatte es kopiert. Es trug jetzt seine Kleidung und selbst die Hausschuhe des alten Mannes.
    »Seid mir gegrüßt, alter Mann«, sagte das schattenhafte Wolfswesen, und die Stimme war ein tiefes Grollen voller Spott, dunkel und kalt. »Wie ist dein Name?«
    »Ich bin Friedrich Coppelius«, sagte das Ding. Es legte den Kopf schief und schnalzte unbeholfen mit der Zunge. »Ich bin Friedrich Coppelius.« Diesen Satz sagte es vor sich hin wie ein Gebet, und bei jedem weiteren Mal hörte es sich mehr wie der alte Mann an. »Friedrich Coppelius, das bin ich. Gestatten, ich bin Friedrich Coppelius. Es freut mich, dass Sie mich gefunden haben. Friedrich, ja, Friedrich Coppelius, so lautet mein Name.« Es neigte den Kopf und betrachtete den Leichnam des alten Mannes, der zu seinen Füßen lag. Leicht stieß es ihn mit dem Fuß an. »Ich bin Friedrich Coppelius, und du bist es nicht mehr. Ich kann jetzt atmen und reden.« Es übte ein Lächeln, schaute sich im Raum um. »Ich bin, denn ich rede. Ich rede, also bin ich.«
    Es übt, dachte Vesper.
    Fassungslos.
    Und zugleich fasziniert.
    Die Gestalt am Schreibtisch knurrte: »Sei jetzt

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