Grimm - Roman
kaum zu fassen vermochte; und man hörte nicht auf die Angst, die leise wispernde Versprechen hauchte, bebend und nahezu besinnungslos; nein, man folgte einfach nur seinem Instinkt und stürmte hinaus in die Schlacht, und die eigene Zaghaftigkeit und Furcht, all die Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit, trugen einen plötzlich auf dem Wind nach vorn, dem unwiederbringlichen Ende entgegen.
So mussten sich früher die Streiter vor einer großen Schlacht gefühlt haben. Man warf sich ins Getümmel, und der Strudel der Ereignisse zog einen förmlich mit sich mit.
Ein dummes Verhalten, typisch menschlich und töricht.
Vesper seufzte.
Goodbye, Johnny, nölte Hans Albers auf der Schallplatte.
Ja, genauso fühlte sie sich nun.
Sie stolperte aus der Standuhr, und die frische Luft im Raum tat irgendwie gut. Die Enge des Uhrkastens zu verlassen, dem Pendel und dem drängenden Tick-tack -Geräusch zu entrinnen, das alles brachte frischen Mut und die wilde Entschlossenheit einer Unwissenden hervor.
Der Menschenwolf drehte den großen Kopf in ihre Richtung, und seine rotglühenden Augen funkelten sie überrascht und wütend an.
Er erkennt mich, dachte sie, als sie das Glimmen in seinem Blick sah. Es ist derselbe Wolf, den ich gestern getroffen habe. Der Mörder meiner Mutter, da ist er also wieder!
Schnell schaute sie sich um, bückte sich und nahm den Gehstock, der bis vor die Standuhr gerollt war. Sie hielt ihn wie eine Waffe vor sich und trat beherzt auf den Wolf zu. Sie hatte natürlich überhaupt keine Ahnung, wie man sich einem gefährlichen Raubtier wie diesem gegenüber verhalten musste.
»Verschwinde!«, herrschte sie die lauernde Kreatur laut an. Als sie sich ihrer eigenen Stimme bewusst wurde, kam sie sich mit einem Mal unglaublich dumm vor. Der
Wolf würde sie zerreißen, wie er es in ihren Träumen immer vorgehabt hatte. Keine Chance hätte sie gegen dieses Ding, ausgeschlossen.
»Sie sind hier?«, knurrte das Wesen. Verwirrung verbarg sich tief in seiner Stimme. Die schwarzen Haare stellten sich ihm am Rücken auf, und die spitzen Ohren ragten in die Höhe.
»Ja, das bin ich!«, antwortete Vesper trotzig.
Speichel troff dem Wolf von den Lefzen.
Zum ersten Mal sah Vesper den Fremden deutlich vor sich und war erstaunt. Der junge Mann, der sich immer noch hilflos im Griff des großen Wolfes wand, wirkte ebenso überrascht, sie hier zu treffen. Er starrte sie verdutzt an, und seine Augen schienen nur Vesper zu sehen. Sie waren dunkel und so schön wie die Nacht, wenn man die Sterne, die man zu finden hoffte, für einen kurzen Moment, bevor sich erneut die grauen Wolken vor sie schoben, zu erblicken vermochte.
»Du?«, fragte sie.
Er zeigte ihr, wie gestern in der Kunsthalle, ein seltsam überdrehtes Lächeln, glücklich und verwundert.
»Was machst du hier?«
»Wonach sieht es denn aus?«, keuchte er. Die Fliege saß schief an seinem Hals, und sein Haar war noch zerwuschelter als am Vortag.
Der Menschenwolf wirkte verwirrt.
Vesper trat auf ihn zu. »Sie haben meine Mutter getötet.« Es kam ihr absurd vor, so zu diesem Wesen zu reden, aber sie tat es dennoch.
Dann bemerkte sie den Schatten, der sich ihr von der Seite näherte, und ihr wurde bewusst, dass sie einen Fehler begangen hatte. Sie hatte nicht mehr an das Coppelius-Ding gedacht.
Mist!, dachte sie.
Das Coppelius-Ding schnellte vor und entwand Vesper mit einem überaus schmerzhaften Griff den Gehstock. Nur einen winzigen Sekundenbruchteil später traf sie ein harter Schlag gegen die Schulter, dann noch einer in den Bauch. Sie krümmte sich vor Schmerzen und taumelte zur Seite. Die Luft blieb ihr weg, und ihr schwindelte.
Das Coppelius-Ding kam auf sie zu.
Sie stieß hart gegen den Plattenspieler, und Hans Albers verstummte mit dem langgezogenen Krächzen einer über Vinyl kratzenden Nadel.
Der Menschenwolf knurrte kehlig: »Sie haben doch nicht etwa geglaubt, dass Sie sich mit mir messen können, Fräulein Gold.«
Vesper erstarrte.
Sie rappelte sich auf, wich zurück, griff nach einem der kunstvollen Stühle vor dem Schreibtisch, schwang ihn gegen das auf sie zuschlurfende Coppelius-Ding.
Der Menschenwolf indes packte den jungen Mann noch fester am Hals. »Wir werden unseren Tanz wohl gleich beenden«, versprach er und ließ Vesper nicht aus den Augen.
Diese aber wich nach hinten aus und kam sich auf einmal wirklich extrem dumm vor.
Das Coppelius-Ding war stehen geblieben, bückte sich und ergriff den ihm entfallenen
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