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Grimm - Roman

Titel: Grimm - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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ihn auch nicht, so einfach war das. Schließlich verschwand er förmlich und wurde unsichtbar für die Unwissenden.
    An der Tür klopfte es.
    Vesper zuckte zusammen.
    Tick, tack,
    tick, tack.
    Der Wolf verhielt sich ganz still. Seine Augen glühten dunkel und tiefrot wie verschwiegene Drohungen in den Schatten.
    In dem Märchenbuch aus ihrer Kindheit war eine Zeichnung gewesen, oder vielmehr eine Radierung. Ein schwarzer Fleck nur, nicht mehr, und darunter stand geschrieben: Dies ist die rabenschwarze Nacht. Vesper hatte gewusst, dass es Dinge gab, die in dieser rabenschwarzen Nacht lebten. Sie hatte sich vor diesem Bild gefürchtet und ihren Vater gebeten, schnell weiterzublättern, wenn sich die Seite näherte. Und jetzt war es hier: das Wesen, das all die Jahre über in der rabenschwarzen Nacht gelebt hatte.
    Sie ballte die Hände zu Fäusten.
    Zitterte am ganzen Leib.
    Sag beim Abschied leise Servus.
    Aus der Ferne der Diele erklang die perfekte Imitation der alten Stimme des Schauspielers. »Mein Name ist
Friedrich Coppelius«, hörte sie das Ding sagen. Es lachte sogar freundlich.
    Der Gast erwiderte etwas, was Vesper nicht verstehen konnte. Dann näherten sich die Stimmen.
    Beide betraten sie das Wohnzimmer.
    Leise lauerte der Menschenwolf.
    »Ich habe Ihre Eltern gut gekannt«, sagte das Coppelius-Ding. »Ihr Vater trug mir auf, Sie zu geleiten.« Er hustete. »Sie müssen so viel erfahren. Es ist gut, dass Sie sofort hergekommen sind.«
    Der Angesprochene tat, was auch Vesper gemacht hatte. Er schaute sich im Raum um.
    »Ein schöner Schreibtisch«, stellte er fest, trat vor und betrachtete das darauf liegende Durcheinander. Sie hörte ein Knacken, das sich anhörte, als bisse jemand in einen Apfel.
    »Ich habe es in der Zeitung gelesen«, sagte das Coppelius-Ding. »Es tut mir so leid.«
    »Ja. Mir tut es auch leid.« Da war ein unterdrücktes Krächzen in der Stimme des Mannes, die sehr jungenhaft und lebhaft klang.
    »Haben Sie die Dinge dabei, die Ihr Vater Ihnen geschickt hat?«
    »Was meinen Sie?«
    »Nun ja«, begann das Coppelius-Ding mit der Stimme des alten Mannes und zwinkerte dem Gast zu, »aus dem Nachlass Ihres Vaters sollten Ihnen gewiss zwei Dinge geschickt worden sein.«
    Schweigen.

    »Ein Brief sollte Sie in den letzten Tagen erreicht haben.«
    Der Menschenwolf lauschte im Verborgenen.
    »Ein Schlüssel und eine Uhr.«
    Auch Vesper lauschte angestrengt.
    »Oder ein Ring.«
    Das war es also, was sie wollten! Sie erinnerte sich an das, was das Margo-Ding gesagt hatte: Kein Ring, kein nichts. Erst danach hatte der Menschenwolf sie töten wollen.
    Sie spähte hinüber zur Lederjacke, die mit dem Rucksack noch immer unter dem Sessel lag.
    Oh, nein, bitte nicht!, flehte sie insgeheim. Der Schlüssel steckte in der Jacke, der Ring an ihrem Finger.
    Tick, tack.
    Der Menschenwolf rührte sich noch immer nicht, und anscheinend war er für den Besucher unsichtbar.
    Er sieht ihn ebenso wenig, wie ich ihn gesehen habe, als er in der Wohnung meiner Mutter auf seinen Auftritt gewartet hat.
    »Ich habe nur einen einzigen Brief erhalten«, erklärte der junge Mann. Sie erhaschte einen kurzen Blick auf ihn, doch nicht auf sein Gesicht. »Ich sollte Sie aufsuchen, das trug mein Vater mir auf. Es sei von äußerster Wichtigkeit, dies zu tun. Sie würden mir alles sagen, was ich wissen muss. Das ist alles.« Er legte den Mantel geräuschvoll ab, warf ihn über den Sessel, unter dem Vespers Kram lag. »Und«, er klatschte leise in die Hände, »hier bin ich. Bereit, mir alles anzuhören, was Sie mir zu sagen haben.« Den Gehstock stellte er nirgends ab.
    »Kein Schlüssel und keine Uhr?«, hakte das Coppelius-Ding erneut nach.

    »Und auch kein Ring«, gab der Fremde zur Antwort. »Nein, es tut mir leid, nichts dergleichen.«
    »Das ist schade.«
    »Was hat es denn für eine Bewandtnis mit diesen Dingen?«
    »Ah, das ist eine lange Geschichte.«
    »Ich bin ein geduldiger Zuhörer.« Er beugte sich über den Schreibtisch und las, was er entdecken konnte.
    »Wir müssen das Refugium finden«, sagte das Coppelius-Ding listig.
    »Welches Refugium?« Der junge Mann zuckte die Achseln. »Ich weiß nichts von einem Refugium.«
    »Aber hat Ihr Vater nicht dort gearbeitet?«
    »Mein Vater«, antwortete er schnell, »war Schriftsteller.« Er lachte kurz auf und konnte seine Traurigkeit in diesem Moment doch nicht gänzlich verbergen. »Der wirklich einzige Ort auf der Welt, den er als sein kleines Refugium bezeichnete,

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