Grimm - Roman
Gehstock.
Was, in aller Welt, hatte sie sich nur dabei gedacht? In der Standuhr wäre sie sicher gewesen, vorerst zumindest. Vielleicht hätte sie sich dort drinnen verbergen können, doch jetzt war sie hier. Sie stand mitten im Raum und forderte den großen, bösen Wolf zum Kampf heraus.
Sie musste verrückt geworden sein.
Doch half ihr diese Erkenntnis weiter?
Mitnichten!
They’ve come to take me, take me over … over and over.
Sie taumelte zum Schreibtisch, und ihr Blick war abwechselnd auf das Wolfswesen und das Coppelius-Ding gerichtet.
I’ve got the devil on my shoulder …
Der Wolf sah noch immer recht unscharf aus; als würden seine Konturen mit dem schattenhaften Hintergrund des Raumes verschmelzen. Die Zähne jedoch blitzten weiß und groß. Aus der Nähe sah das Wesen noch viel mehr aus wie der Wolf aus den Träumen, die sie immer schreiend hatten erwachen lassen.
Dies ist die rabenschwarze Nacht …
»Ich denke«, sagte der Menschenwolf, dem jungen Mann zugewandt, »dass wir es jetzt beenden.« Er bleckte die Zähne und neigte seine Schnauze dem Hals des verzweifelt um sich schlagenden jungen Mannes entgegen.
Vesper schluckte, spürte, wie die Panik ihr den Atem nahm.
Was, in aller Welt, hat dieser Junge hier zu suchen?
Sie wusste nicht, was sie tun sollte.
Tick, tack, tick, tack, tick, tack.
Die Zeit lief ihr davon.
Oh ja, er hat erwähnt, dass seine Eltern gestorben sind. Dass sie das Gemälde mochten.
Ohne nachzudenken, nahm sie das erstbeste Buch, das auf dem Schreibtisch vor ihr lag, und warf es mit aller Kraft nach dem Wolf. Es war ein schweres Buch, alt und mit brüchigem Einband. Sie schleuderte es mit aller Wucht in Richtung des Wolfskopfes und hoffte inständig, dass sie das Richtige tat.
Was dann passierte, geschah so rasend schnell, dass es sogar die Kreatur selbst überraschte.
Noch bevor das Buch den Kopf des Menschenwolfs traf, glaubte Vesper zu bemerken, dass die Kreatur mit einem Mal gar nicht auf das Buch starrte, sondern auf den Ring an ihrem Finger. Ein mattes Leuchten ging von ihm aus, sanft und so zart, dass es wie eine Täuschung anmutete. Dazu erstrahlte eine Wärme wie von Sonnenschein, leicht und verweht, ein glimmendes Glühen, das sie vorhin in all der Aufregung gar nicht bemerkt hatte, sofern es vorhin überhaupt schon da gewesen war.
Die Kreatur deutete mit der Krallenhand auf sie. »Der Ring!« Dann verzerrte sich die Fratze vor Schmerzen, als das Buch sein Ziel fand. Ein dumpfer Aufprall, ein schnelles Zucken mit dem Kopf.
Der junge Mann ergriff die Gelegenheit in diesem Moment der Verwirrung und entwand sich dem Griff der Kreatur, wurde aber sogleich von einem kräftigen und
unkontrollierten Schlag ihrer Pranke zu Boden geschleudert.
Mit einem dumpfen Ächzen schnappte der junge Mann nach Luft, blinzelte benommen, kroch von dem Wolf weg.
Vesper dachte, dass sie das Buch mit eben jener Hand geworfen hatte, an der ihr neuer Ring steckte.
Und dann, bevor sie einen weiteren Gedanken fassen konnte, zerschnitt ein zähneknirschendes Kreischen die Stille.
Denn dort, wo das Buch den Wolf getroffen hatte, bedeckten jetzt winzige schwarze Flecken dessen Haut. Sie waren wie aus dem Nichts gekommen, als der Staub vom Buchdeckel das Haupt des Wolfes bedeckt hatte.
Vesper konzentrierte sich.
Staub?
Nein, das war kein Staub.
Das Buch hatte sauber zwischen all den anderen Dokumenten auf dem Tisch gelegen. Es war etwas anderes, was dem Wolf zu schaffen machte.
Erst beim zweiten Hinsehen bemerkte Vesper, dass die Flecken aussahen wie winzige Buchstaben, die wie dichter Staub aus dem Buch, das sie geworfen hatte, gerieselt waren.
Da, wo sie die Haut des Wolfes berührt hatten, begann diese zu welken. Sie wurde dunkel und schälte sich ab, und das sterbende Fleisch darunter roch herb verbrannt und nach süßlicher Verwesung.
Laut und gequält heulte das Wesen auf. Es hatte Schmerzen, so viel war klar. Gleichzeitig war es unfähig, seiner
Misere Einhalt zu gebieten. Wütend hieb es sich selbst mit den Pranken gegen den Kopf, ohne Erfolg.
Die winzigen Buchstaben fügten dem Wolf weiterhin Verletzungen zu, so klein und unscheinbar, dass nichts gegen sie gefeit war.
Vesper starrte auf das Buch, das am Boden lag.
Die gesammelten Hausmärchen der Brüder Grimm, eine wirklich uralte Ausgabe.
Der junge Mann rappelte sich hinter dem Menschenwolf auf und wich noch ein Stück zurück. Er erhob sich und bewegte sich mit dem Rücken zur Wand um den Schreibtisch
Weitere Kostenlose Bücher