Grimm - Roman
herum auf Vesper zu.
Der Wolf indes fauchte, und in den rotglühenden Augen blitzte Verzweiflung auf - und Furcht.
Vesper stöhnte auf. Die Kreatur würde sie ohne Mühe töten können, doch etwas hielt sie zurück. Etwas verunsicherte sie. Etwas, das spürte Vesper, was mit ihr zu tun hatte.
Der Wolf starrte unverwandt den Ring an ihrem Finger an.
»Verschwinde!«, schrie Vesper die Kreatur an. Etwas Besseres fiel ihr einfach nicht ein.
Du meine Güte, was tat sie hier überhaupt?!
Der junge Mann, der sich ihr näherte, konnte den Blick ebenso wenig wie sie selbst von dem abwenden, was sich da vor ihrer beider Augen zutrug. Dann schnappte auch er sich eines der Bücher und schmetterte es dem Coppelius-Ding mitten ins Gesicht.
Die Kreatur wankte und ließ überrascht den Gehstock fallen.
Vesper hatte keine Ahnung, was genau hier gerade geschah.
Der Menschenwolf riss sich wie tobsüchtig verzweifelt das Fell vom Leib.
Die gesammelten Hausmärchen der Brüder Grimm.
War es nicht nur ein gewöhnliches Buch gewesen, das sie dem Wolf an den Kopf geworfen hatte? Und was geschah jetzt mit ihm? Zwar konnte sie sehen, was mit ihm geschah, aber sie verstand es einfach nicht. Der Anblick, der sich ihr bot, fügte sich nicht in das Bild der Wirklichkeit, das sie bisher mit sich herumgetragen hatte. Nein, das hier war schlicht und ergreifend etwas, was es gar nicht geben konnte.
Und doch passierte es, hier und jetzt.
Das einst dichte Fell wurde grau und fiel ihm in großen Büscheln aus, auch ohne sein Zutun; und die Buchstaben, die aus dem Buch gerieselt waren, fraßen sich ihm durch den Leib. Wütend und voller Schmerzen heulte der Wolf auf. Er ging in die Knie und rieb die Schnauze am Boden. Das Rot erlosch in den wilden Augen, und schwarze Tränen benetzten ihm Zunge und Gesicht.
Er hieb sich mit den Klauen auf die Schnauze, und dunkles Blut quoll ihm aus den Verletzungen an der Stirn, die er sich selbst zugefügt hatte.
Das Coppelius-Ding, das alles beobachtet hatte, schien verwirrt zu sein. Es torkelte unsicher und haltlos und konnte sich nicht entscheiden, was es als Nächstes tun sollte. Es sah aus, als verlöre es gänzlich die Orientierung.
Der junge Mann erstarrte für einen kurzen Augenblick entsetzt neben dem Schreibtisch und beobachtete den Wolf. Das große Wesen hockte am Boden, und eine Verwandlung setzte ein. Die Gliedmaßen wurden wieder menschlich, aber die Metamorphose schien ihm nicht gänzlich zu gelingen. Boshaft funkelten die roten Augen die beiden Widersacher an. Wild drehten sich die Augäpfel in den tiefen Höhlen. Die gespitzten großen Ohren knickten ein.
Ein erbärmliches Jaulen entfloh der Kehle des Wesens.
Vesper hörte ein Zischen.
Ganz plötzlich.
Viel zu nah.
Sie schaute hinter sich.
Das Coppelius-Ding wankte auf sie zu. Es hörte sich an wie eine Schlange, die das Rascheln einer Pflanze nachzuahmen versucht, schleichend und giftig und hinterlistig wie beißender Hunger, der nach Nahrung sucht.
Der junge Mann, der jetzt nach vorn hastete und seinen Gehstock vom Boden aufhob, zog sogleich eine Art Säbel daraus hervor und hieb damit wild auf das Coppelius-Ding ein. So unelegant und hektisch waren seine Bewegungen, dass man das, was er da tat, nie und nimmer als Fechtkunst hätte bezeichnen können. Er war alles andere als ein geübter Kämpfer. Aber er gab sich Mühe.
»Oh, verflixt!«, fluchte er.
Und Vesper musste kurz grinsen, weil sie sich nicht erinnern konnte, wann sie zuletzt jemanden dieses Wort hatte sagen hören.
Doch so stümperhaft die Hiebe auch anmuteten, sie kamen sehr schnell und immer noch schneller; und sie trennten dem Coppelius-Ding den Kopf vom Leib, was einfach und so schnell wie der Blitz passierte und den jungen Mann selbst augenscheinlich überraschte.
Der abgetrennte Kopf fiel zu Boden und entwickelte dort ein Geflecht aus Wurzeln und Ranken, die am Halsansatz aus der Wunde quollen.
Vesper verzog vor Ekel das Gesicht.
Der Körper stand noch immer aufrecht und unschlüssig da, kippte dann zur Seite und blieb zuckend auf dem Teppich liegen. Kein Blut trat aus dem verbliebenen Halsstumpf, sondern brauner Pflanzensaft, eine Flüssigkeit, die zäh und klebrig aussah.
»Was ist das für ein Ding?«, fragte sich Vesper laut und sah zwischen dem Wolf und dem Coppelius-Ding hin und her.
»Keine Ahnung«, keuchte der junge Mann atemlos. »Aber es ist eklig, nicht wahr?!«
Vesper trat zwei Schritte zurück. »Witzbold.«
Etwas passierte mit dem
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