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Grimm - Roman

Titel: Grimm - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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Ding.
    Was immer es auch war.
    »Es riecht nicht gut«, stellte der junge Mann fest und rümpfte die Nase.
    Vesper war die Letzte, die ihm widersprochen hätte.
    »Was ist das?«, flüsterte sie.
    Die Ranken aus dem abgetrennten Kopf krochen zielstrebig auf den Torso zu; und als sie ihn erreichten, da tauchten sie in den Pflanzensaft ein und tranken davon.
Der abgetrennte Kopf zog sich mithilfe der Ranken zum Körper hin, stetig und geduldig, während die Augen wach und gierig blinzelten und Vesper und den jungen Mann arglistig beobachteten.
    »Herrje, was ist das?«, entfuhr es ihr erneut. »Was tut es da?« Etwas Besseres, was sie hätte sagen können, fiel ihr einfach nicht ein.
    »Woher soll ich das wissen?«, antwortete der junge Mann. Dann schaute er auf den Wolf, der sich winselnd auf dem Boden krümmte. »Was hast du mit ihm gemacht?«
    Vesper zuckte die Achseln. »Ich habe ihm nur das Buch an den Kopf geworfen.«
    »Die Märchensammlung?«
    »Ja.«
    »Die Macht des geschriebenen Wortes.« Sie wusste nicht, ob er scherzte oder es ernst meinte.
    »Sieht so aus«, war alles, was sie darauf erwiderte.
    Der Menschenwolf kniete jetzt am Boden und leckte sich mit einer unglaublich langen Zunge, die schwarz wie Leder war, über die Wunden. Sein Atem wurde langsamer, ruhiger und kontrollierter.
    »Schon irgendwie faszinierend, diese Kreatur.« Der junge Mann trat rasch auf sie zu. »Na ja, wir sollten jetzt vielleicht trotzdem abhauen.« Seine Hand ergriff fest die ihre. »Kommst du mit?« Vesper schrie laut auf, als die Berührung sie aus ihren Gedanken riss.
    Dann nickte sie.
    Er deutete zu den Wesen. »Sieht so aus, als würden sich die beiden erholen!«

    Sie öffnete den Mund, konnte aber noch immer nichts sagen.
    Die Wunden des Menschenwolfs begannen zu heilen, und das ohne erkennbaren Grund. Die Hände des Coppelius-Dings packten jetzt den eigenen Kopf und zogen ihn zum Halsansatz, wo die Ranken, die wie Tentakel aus dem Kopf ragten, diesen erneut mit dem Körper verbanden.
    »Es wächst wieder zusammen«, f lüsterte Vesper fassungslos.
    »Wir sollten nicht warten, bis es den beiden wieder besser geht.« Der junge Mann mit den großen Händen und den großen Ohren lächelte ihr zu. »Falls es dich tröstet, ich habe genauso wenig eine Ahnung bezüglich dessen, was hier gerade geschieht, wie du. Aber ich weiß, dass wir besser beide verschwinden. Ist nicht gut, länger zu verweilen.«
    Sie nickte. Flink schlüpfte sie in ihre Lederjacke und schnappte sich den Rucksack, der die ganze Zeit über unbemerkt unter dem Sessel gelegen hatte. Der junge Mann schnappte sich seinen Mantel und steckte den Säbel in den Gehstock zurück.
    Er fischte sich eine Strähne seines widerspenstigen Haars aus der Stirn, atmete tief durch.
    »Ich bin Leander Nachtsheim«, stellte er sich vor, als sie durch den Korridor zur Tür stürmten.
    »Vesper«, keuchte Vesper nur. »Vesper Gold.«
    Er schenkte ihr ein Lächeln, nahm sie erneut bei der Hand und zog sie hinter sich her, fort von diesem Ort, der
düster wie ein ganzer Wald geworden war. So verließen sie das Haus am Helmstieg und rannten kopflos hinaus in die Winterwelt, die erfüllt war vom trostlosen Heulen des bösen Wolfs und ihren eigenen furchtsam pochenden Herzen.

Wie wehende Tücher aus leichtem Weiß
    W ie ein argloses Flüstern, schneeweiß und weich, hatte sich heimlich während der vergangenen Stunde gar lautlos der wirkliche Winter über die eisige Welt gelegt, und die bedrohlichen Geräusche, die wie dunkle Lieder in der Nacht waren, wurden sorgsam von den dicken Schneeflocken, die, getragen von kleinen Wirbelwinden, ihre Tänze aufführten, gedämpft.
    Vesper, die hartnäckig mit Leander Nachtsheim Schritt zu halten versuchte, war sich ihres immer lauter und angestrengter werdenden Keuchens bewusst. Die Kehle brannte ihr wie Feuer in der Kälte.
    Sie bekam langsam Seitenstechen und musste fortwährend nach Luft schnappen. Ihr unruhiger Atem bildete kleine unstete Wölkchen in der eisigen Luft vor ihrem Gesicht und verweilte ebenso wenig wie die wirren, sprunghaften Gedanken, Ängste und Erklärungsversuche, die ihr alle gleichermaßen durcheinander in den Sinn kamen.

    Die Knie zitterten ihr noch immer. Selbst jetzt, während des Laufens.
    Das alles hier war doch nur ein einziger Albtraum. Ja, ein böser Traum ohne auch nur die geringste Verschnaufpause.
    Sie fühlte sich unendlich müde und schwach; wie ein Tier, auf das es eine Horde von Räubern abgesehen

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