Grimm - Roman
hat.
Die Erschöpfung zerrte an ihren Gliedern, doch die Angst ließ sie laufen.
Ja, sie rannte.
Weiter und weiter.
Ohne Unterlass.
Sie rannte.
Rannte.
So schnell sie nur konnte. Und wenn es ihre letzten Kräfte kosten würde, sie musste fort von hier.
»Alles okay mit dir?« Leander sah sie an mit diesen faszinierenden Augen. »Es ist nicht mehr weit.«
Ein schwacher Trost, aber immerhin.
»Geht schon«, log sie. Die eisig kalte Luft erweckte ihre kraftlosen Sinne wieder zum Leben. Der nach Salz und Schnee riechende Wind machte es ihr leicht, die träge Benommenheit abzuschütteln.
Sie ließ wachsam den Blick schweifen.
Die Häuser schienen sich an den Süllberg zu schmiegen, als könnten sie so dem Bösen entgehen, das sich irgendwo hier oben im Geheimen tummelte. Die schiefen Dächer aus dunklem Reet, nunmehr bedeckt von einem zaghaften Weiß, reckten ihre Schornsteine in den trüben
Himmel - und selbst der Rauch zog nur vorsichtig und zögerlich über den kleinen Ort.
Leander betrachtete sie einen Moment lang.
Kurz nur, wie ein Gedanke am Morgen.
»Gut, dann weiter.« Er ergriff ihre Hand und zog sie hinter sich her. Ihm war es egal, dass sie nicht darum gebeten hatte, er tat es einfach.
Also rannte sie.
Nein, das hier war bestimmt kein Traum.
Sie war hellwach.
Und sie lebte.
Dieser Gedanke jedenfalls ließ sie kurz frohlocken.
Ja, sie lebte.
In einer Welt, in der es pechschwarze Wölfe und noch einige andere höchst seltsame Dinge gab. Sie verstand nichts von alledem; nur das eine, nämlich dass sie laufen sollte, dass sie nicht anhalten durfte, denn das, was hinter ihr und dem Jungen her war, wollte sie beide töten.
Das Coppelius-Ding dürfte jetzt seinen Kopf wieder auf dem Hals tragen, und der Menschenwolf … nun ja, sie wollte sich gar nicht ausmalen, was mit dieser Kreatur geschehen war. Zweifel daran, dass das Wesen sich an ihre Verfolgung machen würde, hatte sie jedenfalls keine.
Vesper schnappte nach Luft.
Hörte die eigenen Schritte klappern.
Den eigenen Herzschlag rasen.
Nein, ein Traum war dies beileibe nicht. Schlimme Träume sahen anders aus, waren kürzer.
Sie beobachtete ihren Begleiter. Mit sprunghaften Bewegungen rannte er vor ihr her.
Leander Nachtsheim - so hieß er also, ihr seltsamer Unbekannter, der, sah man von dem Namen ab, ihr gar nicht mehr so unbekannt war. Immerhin waren sie einander schon im Museum begegnet. Der Junge mit dem Apfel und den tollen Augen und dem Lächeln, das so fehl am Platze und dennoch so aufrichtig wirkte wie nur irgendwas.
Was für ein Zufall.
Jetzt waren sie schon gemeinsam auf der Flucht.
Das Leben konnte einem wirklich seltsame Streiche spielen.
Sie rannten flink einige der schmalen Gassen entlang, duckten sich, wenn die kahlen Äste der vielen Bäume nach ihnen griffen. Dann ging es enge und steile Treppen hinab. Der ganze Ort wirkte irgendwie verwunschen, so still, als hielte er den Atem an. Ein Labyrinth aus Sträuchern, gerippeartigen Bäumen, heimeligen Häusern und unendlich vielen Treppenstufen.
An einer Weggabelung blieb Vesper schließlich stehen. »Moment«, keuchte sie, »hast du eine Ahnung, wo du hinläufst?«
Leander hielt ebenfalls an. Sah sich um, nickte leicht, als wolle er sich selbst etwas bestätigen. Dann zeigte er ihr ein strahlend verrücktes Lächeln und strich sich unternehmungslustig die Tolle aus der Stirn. »Nein, aber ich bin sicher, dass es dort entlanggeht.« Er deutete nach unten, eine weitere Treppe hinab.
Vesper fand das nicht komisch. »Bist du dir wirklich sicher?«
Er zögerte, aber nicht lange. »Nein, eigentlich nicht. Aber es klingt doch gut, oder? Wir müssen vom Berg runter, ist doch klar. Man sollte niemals nach oben flüchten, immer nur nach unten.«
»Wie witzig.«
»Nein, im Ernst, da unten steht mein Auto.«
»Du bist mit dem Wagen hier?«
Er lächelte stolz. »Genau.«
Na, immerhin. Eine Fluchtmöglichkeit!
»Komm!«, forderte Leander sie auf. »Es ist nicht mehr weit. Glaube ich. Und ich will nicht warten, bis dieses Ding sich erholt hat.«
Ich auch nicht, dachte Vesper. »Hast du eine Ahnung, was das war?«, fragte sie.
»Ein Wolf.«
»Das habe ich auch gesehen.«
»Der böse Wolf aus den alten Märchen«, präzisierte er seine Antwort. Er sah zweifelnd aus.
»Würde ich mittlerweile auch glauben«, sagte Vesper.
»Er sah zumindest aus wie ein Wolf.«
»Du hast ihn gesehen.«
»Ja, habe ich.«
»Andere Menschen können das nicht.« Vesper erinnerte sich an
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