Grimm - Roman

Titel: Grimm - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi

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verlieren, traten sie panikartig die Flucht nach vorn an.
    Die Wölfe, die ihnen nachsetzten, waren wirklich kaum mehr als unscharfe Umrisse. Sie sahen aus wie Wolfs schemen
! Sie waren durchscheinend, als seien sie kaum mehr als die Andeutung von Wölfen. Wie Geister, die noch gar nicht richtig in dieser Wirklichkeit angekommen waren. Doch wirkten sie nicht nur unecht , sondern auch äußerst gefährlich.
    Und sie waren schnell.
    Vesper und Leander stolperten bergab die Hauptstraße entlang.
    Hier gab es immerhin Menschen, dachte Vesper hoffnungsvoll, dann aber entsann sie sich der Verfolgungsjagd am Hamburger Bahnhof, und die Hoffnung zerstob, noch bevor sie ihr Flügel verliehen hatte.
    Ja, Menschen gab es hier. Sie schlenderten an den Schaufenstern vorbei und gingen ihren Geschäften nach. Ein gemütliches Dorfleben, wie aus dem vertrauten Winterbilderbuch.
    Aber niemand hier beachtete die Wolfsschemen. Nein, nicht einmal das Heulen schienen die Menschen zu hören.
    Doch letztlich war das alles nicht wichtig.
    Nicht hier, nicht jetzt.
    Leander zog sie einfach die Straße entlang. Er hatte sich ihrer angenommen, obwohl Vesper nicht darum gebeten hatte. Er tat es einfach. Entschlossen achtete er darauf, dass sie nicht zurückfiel. Und Vesper freute sich insgeheim, dass sie jemanden gefunden hatte, der so war wie er.
    Sie wichen einigen Autos aus und stürmten hinunter zum Strand, wo eine schmale Straße oberhalb des knappen
Sandstrandes entlanglief. Die Autos, die hier fuhren, waren infolge von Schnee und Eis langsam und vorsichtig.
    Vesper drehte sich kurz um und sah einen jungen Mann, der sich gerade eine Zigarette anzündete. Er trug eine weiße Daunenjacke und eine breite Kappe mit Fellbesatz an den Ohrenklappen.
    Der erste der nahenden Wolfsschemen sprang den Mann ohne Vorwarnung an.
    Der Mann ließ überrascht seine Zigarette fallen und wurde von der schweren Kreatur zu Boden geworfen. Vesper musste zweimal hinschauen, um sich zu vergewissern, dass das, was sie gerade gesehen hatte, auch wirklich passiert war.
    Der Mann mit der Kappe wirkte überrumpelt und ein wenig ängstlich, doch dann verschwand der Gesichtsausdruck, der zu ihm gehörte, und alles, was einmal menschlich gewesen war, wich einer Grimasse, die in einem Lächeln erstarrt war.
    Der Wolfsschemen, der den Mann zu Boden geworfen hatte, verschmolz nun augenblicklich mit dem Körper, der sich kurz aufbäumte, dann aber im Schnee auf dem Gehweg liegen blieb. Es sah aus, als sei der Schemen förmlich in den Körper des Mannes hineingesickert . Der Mann rollte sich auf den Bauch, und dann stand er auf allen vieren da. Er hechelte wie ein Tier. Die Kappe lag neben ihm auf dem Gehweg.
    Wie ein richtiger Wolf hockte der junge Mann sich auf den Boden.

    Dann hob er den Blick, spähte angestrengt ins Schneetreiben und reckte die Nase in den Wind. Seine Augen leuchteten orangerot wie die des Wolfsschemens. Unter der blassen Haut des Mannes glaubte Vesper den Wolf zu erkennen, sogar auf die Entfernung. Als drücke sich der Schemen des Wolfes von innen gegen die Haut des Menschen, als habe sich der Wolfsschemen ein Kostüm aus Fleisch und Haut und Haaren übergezogen.
    »Hast du das gesehen?«, fragte Vesper.
    »Faszinierend«, murmelte Leander. Er stand mit leicht offenem Mund da und konnte den Blick kaum von der Kreatur lösen. »Wirklich, faszinierend.«
    Sie starrte ihn an.
    Das war alles, was er dazu zu sagen hatte? Faszinierend?
    »Wow!«, ergänzte er.
    »Ja, toll. Ich bin ganz aus dem Häuschen.«
    Der Mann in der Daunenjacke sprang plötzlich auf und kam auf allen vieren auf sie zugerannt. Er war schnell wie ein Wolf, und er knurrte.
    Die anderen Passanten starrten verwirrt und überrascht auf den jungen Mann, doch niemand schien sich wirklich zu fürchten. Alle wirkten sie nur ein wenig verwundert, weil ein Mann wie ein Tier über die Straße lief.
    »Lauf!«
    Sie fand, dass dies eine gute Idee war.
    Mit spinnenartigen Bewegungen setzte die Gestalt ihnen nach. Hände, Arme und Beine bewegten sich in einem für einen Menschen unnatürlichen Rhythmus.

    Vesper war irritiert, weil sie nicht gewusst hatte, dass sich ein Mensch auf diese Art und Weise bewegen konnte.
    Leander zog sie hinter sich her.
    »Da drüben ist es.«
    Sie löste den Blick von der Kreatur und blickte nach vorn, wo sie das Schild eines Fischrestaurants erkannte. Hinter den Fenstern des Hauses brannte Licht, die Gardinen gaben dem Restaurant eine typisch norddeutsche Gemütlichkeit.