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Grimm - Roman

Titel: Grimm - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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Gäste aßen ruhig ihre Mahlzeit, niemanden kümmerte, was hier draußen geschah.
    Der Mann in der weißen Daunenjacke indes kam ihnen schnell auf allen vieren hinterher. Mit großen Sprüngen setzte er ihnen nach. Er knurrte, und sein Heulen wurde aus vielen anderen Kehlen von überallher erwidert.
    »Wie viele sind das wohl?«, keuchte Vesper.
    »Ich möchte es ungern herausfinden«, lautete die Antwort.
    Vesper rannte einfach weiter.
    Sie warf einen Blick zurück und sah, dass die zwei verbliebenen Wolfsschemen sich in die Körper anderer Passanten gedrängt hatten, den einer älteren Dame und den einer Frau, die eben noch zwei Einkaufstüten getragen hatte. Die Einkaufstüten lagen jetzt auf dem Boden, und ihr Inhalt ergoss sich über die Straße.
    Die alte Dame und die Frau liefen nun auf allen vieren die Straße entlang und knurrten. Ihre Gliedmaßen, ihr Hals, das alles sah unnatürlich verrenkt aus - und dennoch bewegten sie sich mit einer erschreckenden raubtierhaften Eleganz, die Vesper erschaudern ließ.

    Das Auftauchen dieser seltsamen Geschöpfe erregte jetzt aber doch endlich die Aufmerksamkeit der anderen Passanten.
    Einige von ihnen schrien entsetzt auf, andere deuteten fassungslos mit dem Finger auf die seltsamen Wesen.
    Vesper wusste nur, dass ihnen nicht mehr viel Zeit blieb.
    »Da ist er!«
    Sie wurde eines gelben Citroëns gewahr. Zielsicher lief Leander auf diesen Wagen zu.
    »Das ist dein Auto?«
    Einsam stand der Wagen im Schnee, in einem matten Gelb und altmodisch, mit den beiden typischen kreisrunden Scheinwerfern, die wie traurige Augen aussahen, und den haubenartigen, fast schon lebendig wirkenden Kotflügeln.
    »Ein 2CV. Oder deux chevaux .« Er grinste stolz. »Was gibt es schon Besseres als eine gelbe Ente?!« Er schnappte sich den Schlüssel aus der Hosentasche, und als sie beim Wagen waren, öffnete er die Tür. »Bitte sehr.« Er ließ ihr den Vortritt.
    Vesper kletterte hinein.
    Die gelbe Ente schaukelte, als auch Leander hinters Steuer stürzte.
    Der Wolfsschemen in der weißen Daunenjacke kam unverdrossen weiter hinter ihnen her. Er hatte den Parkplatz fast erreicht.
    Vesper hoffte inständig, dass Tür und Fenster halten würden. Der Wagen war mit Sicherheit keine Ausgeburt
an Stabilität, so viel war klar. Dünnes Blech, winzige Türschlösser, zerbrechlich wirkende Fensterscheiben, gebogene Blechfalzen und oben ein aufrollbares Vinylverdeck.
    Leander fuchtelte mit dem Schlüssel herum, steckte ihn ins Zündschloss, drehte ihn um.
    »Döschewo«, murmelte er. »Von wegen hässliches Entlein.«
    Der Motor knatterte, machte aber keinerlei Anstalten, zu laufen.
    »Komm schon«, flüsterte Leander verschwörerisch.
    Vesper indes wurde ungeduldig. »Das ist nicht dein Ernst, oder?«
    »Ist die Kälte«, grummelte Leander und hämmerte mit den Fäusten auf das Lenkrad ein.
    »Glaubst du, das hilft?«
    Er schüttelte den Kopf. »Nein, ist bloß wegen der Nervosität.«
    Der Wolfsschemen in dem Daunenjacken-Mann war jetzt fast beim Wagen und machte sich zum Sprung bereit.
    Vesper konnte sich die Bemerkung nicht verkneifen. »Du bist nervös?«
    Leander zog ein Gesicht. »Nein, ich nicht. Aber der Wagen.« Erneut fuchtelte er an der Schaltung herum. »Enten fürchten sich vor Wölfen.«
    Ohne es zu wollen, musste Vesper laut loslachen. »Oh, Mann«, murmelte sie, dachte insgeheim an Peter und der Wolf und kicherte auch dann noch, als der Wolfsschemen mit vollem Tempo auf den Wagen zurannte und sprang.

    Leander drehte den Schlüssel erneut um.
    Wieder nur ein Knattern, asthmatisch und schwach.
    Der Wolfsschemen prallte gegen die Ente. Feine Risse breiteten sich wie Spinnennetze über die Scheibe aus.
    »Wird das Glas dem Aufprall standhalten?«
    »Es gibt nur einen Weg«, presste Leander hervor und malträtierte die Kupplung wie ein Besessener, »wie wir das herausfinden können.« Besorgt musterte er die Risse im Glas.
    Der Wolfsschemen war neben der Ente zu Boden gegangen und schüttelte den Kopf.
    »Okay, okay, okay.« Noch ein Versuch, die Kiste zu starten.
    Die Ente erwachte mit einem knatternden Geräusch zum Leben. Vesper kam sich vor wie in einem Comic.
    Der Wolfsschemen unternahm den nächsten Versuch, machte einen Satz und prallte gegen die Seite der Ente. Der Aufprall beulte das Blech ein, und die Finger des Wolfsschemen-in-Daunenjacke-Mannes bogen sich in einem unnatürlichen Winkel zu Krallen und packten den Türgriff auf der Beifahrerseite.
    Vesper schrie erschrocken auf.

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