Grimm - Roman
schüttelte den Kopf. »Nein, warum?«
»Wegen der Begegnung im Museum.«
»Nein, das war ein Zufall. Ehrlich. Ich wollte das Gemälde betrachten, sonst nichts.«
Bevor sie etwas erwidern konnte, erklang erneut jenes Geräusch, das ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ.
Beide blieben sie wie angewurzelt stehen.
Der Wind trug ein kehliges Heulen durch das Schneegestöber. Langgezogen, tief und boshaft. Und so anders als das Geräusch, das der Wolf vorhin im Haus von sich gegeben hatte.
»Was war das denn?« Die Frage war rein rhetorisch.
»Noch mehr Wölfe«, bemerkte Leander lakonisch. »Es hat sich angehört wie … noch mehr Wölfe.«
»Noch mehr Wölfe«, wiederholte Vesper.
»Der Menschenwolf hat Verstärkung mitgebracht.«
»Du magst es, diese Dinge zu sagen, was?!«
»Welche Dinge meinst du?«
»Dinge wie diese.«
Leander nickte. Irgendwie wirkte er unruhig und doch auch neugierig. »Das sind viele Wölfe.« Er überlegte, kratzte sich am Kinn, sah sie abwartend an. »Hast du einen Plan?«
Hatte sie richtig gehört? »Ich? Wieso denn ich?«
»Na ja, du hast mir das Leben gerettet. Normalerweise haben Retter einen Plan.«
Beleidigt sagte sie: »Ich habe keinen.«
»Dachte ich mir.«
»Außerdem bin ich nicht dein Retter.«
»Doch, bist du.«
»Ich hatte auch nicht geplant, dir das Leben zu retten.«
»Trotzdem danke ich dir. Das Versteck in der Standuhr war gut gewählt.«
Das Heulen erklang erneut. Diesmal definitiv aus vielen Kehlen. Und schon ein wenig näher.
»Aber was den Plan betrifft. Ich habe auch keinen. Nicht wirklich. Ehrlich.«
»Das glaube ich dir sogar.«
Das wütende Heulen aus den vielen Kehlen schnitt scharf durch den stillen Schnee und hinterließ eine tiefe Narbe, die finster und furchtbar war und die rabenschwarze Nacht selbst erahnen ließ.
»Es klingt seltsam«, bemerkte Leander.
»Ja, so unfertig .«
Sie wussten beide nicht, was sie mit dieser Bemerkung anfangen sollten. Die Beschreibung traf genau das Gefühl, das sie beide hatten. Es klang unfertig , aber was hatte das zu bedeuten?
»Woher kommt es?«
Vesper wusste, dass sie die Antwort, die sie ihm gab, hasste: »Von überallher, so hört es sich jedenfalls an.«
Der Wind trug es über die Dächer der Häuser, und es war nicht möglich zu erkennen, wo genau sich sein Ursprung befand. Irgendwo hoch oben am Berg, womöglich aber auch an den Seiten oder unten am Fluss. Die Geräusche, das wusste Vesper aus den alten Märchen, waren noch nie vertrauenswürdig gewesen, allzeit wollten sie nur täuschen und Wanderer in die Irre führen. Sie lockten einen und waren Lügen im Wind.
»Von überallher, hm, tja, das ist ein Problem.« Er nickte schnell, kratzte sich am Kinn, schnalzte mit der Zunge. »Was, was, was also tun wir?« Er lauschte erneut in das Schneegestöber hinein, sagte dann energisch: »Ich denke, wir sollten jetzt wirklich abhauen.«
»Na, bitte.«
»Zum Wagen.«
»Gute Idee.«
Er lief voran.
Sie folgte ihm.
So weit nichts Neues.
Endlich, nach einigen weiteren Treppenstufenwegen, erreichten sie eine Art Hauptstraße, die zumindest so breit war, dass Autos dort fuhren.
»Wer bist du?«, fragte sie im Laufen.
»Sagte ich dir doch. Leander Nachtsheim. Du kannst mich Leander nennen.«
»Das meine ich nicht.« Er hatte einen leichten Akzent. Ein hart rollendes R, eine seltsame Intonation, irgendwie ausländisch.
»Ich bin Student.«
»Glaube ich nicht.«
»Was heißt das, du glaubst das nicht? Was gibt es da denn nicht zu glauben?«
»Du wirkst so … anders.«
»Ach ja?«
»So altmodisch.«
»Das machen die Klamotten.«
»Könnte sein.«
»Ich finde sie chic. Sehr akademisch .« Fast klang er ein wenig beleidigt.
»Aber nicht modern.«
»Sie lassen mich klug und weltgewandt erscheinen, findest du nicht?«
Was für ein seltsames Gespräch, dachte Vesper und schnappte nach Luft.
»Du bist schnell außer Atem«, bemerkte er.
»Sonst noch was, Professor?«
»Rauchst du?«
»Manchmal.«
»Warum?«
»Ist doch meine Sache, oder?«
»Du solltest damit aufhören«, schlug er vor.
Sie starrte ihn entgeistert an. »Du gibst mir Ratschläge? Jetzt?«
»Warum nicht?«
»Wir sind gerade auf der Flucht.«
»Und reden trotzdem miteinander.«
»Verdammt, wer bist du?«, schrie sie ihn fast an.
Sie erreichten eine Weggabelung.
Er blieb stehen, sah sie an. Seufzte: »Die Kurzfassung?«
Wieder erklang das Heulen, diesmal von oberhalb der Treppe, die sie eben noch
Weitere Kostenlose Bücher