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Grimm - Roman

Titel: Grimm - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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ihre Flucht im Bahnhof.
    »Sieht so aus.«
    »Und warum kannst du das?«
    »Du hast ihn auch gesehen.«

    »Lenk nicht ab.«
    »Du willst also wissen, warum ich ihn gesehen habe?«
    Das war doch nicht auszuhalten!
    Sie schnappte nach Luft und funkelte ihn wütend an. »Warum?«
    Er fuchtelte mit beiden Händen ungelenk in der Luft herum. »Weil ich einen magischen Blick habe?« Er grinste wieder breit, so vertrauensselig und aufgeregt verdreht, dass man ihm irgendwie nicht böse sein konnte.
    »Na klar, ein magischer Blick.« Machte er sich etwa über sie lustig?
    Er trat auf sie zu, sah ihr tief in die Augen.
    Grinste.
    »Blödmann«, sagte Vesper und gab ihm wütend einen Stups. Eine Geste, die vertrauter wirkte, als sie es eigentlich war.
    »Nein, ehrlich, ich habe keine Ahnung«, bekannte er aufrichtig. »Ich habe einfach gewusst, dass er da ist und dort in der Ecke lauert.« Die beschwingte Leichtigkeit in seinem Gesicht verflog. »Aber warum ich das erkannt habe …?« Er zuckte die Achseln. »Ich habe es einfach nur gewusst.«
    Konnte das sein?, fragte sie sich. War es wirklich möglich, dass er ebenso wenig Ahnung von dem hatte, was hier vor sich ging, wie sie selbst?
    In seinen Augen war keine Lüge zu erkennen.
    Immerhin!
    Aus der Ferne erklang plötzlich ein Heulen, kehlig und verletzt, hungrig und fordernd.

    »Klingt nach dem Menschenwolf«, stellte Vesper fest. »Er ist also nicht tot.«
    »Nein, nur wütend.«
    »Und das andere Ding?«
    »Das Coppelius-Ding, das so gestunken hat?«
    Sie nickte nur.
    »Das Pflanzending ist zu langsam, um uns zu folgen.«
    »Bist du dir sicher?«
    »Sehe ich so aus?«
    Beide blickten den Weg zurück, dorthin, wo er in dem Schneeflockentreiben verschwand.
    »Den Menschenwolf auf der Jagd zu wissen ist auch nicht besser.«
    »Sehe ich genauso.«
    »Lauf!«, schlug er vor, als das raue Heulen ein weiteres Mal erklang. Dazu klatschte er in die Hände.
    Und lief los.
    Vesper sah ihm einen winzigen Augenblick lang hinterher, dann folgte sie ihm.
    Was hätte sie auch anderes tun sollen?
    Während sie lief, registrierte sie, dass es auffallend ruhig war im Ort. Passanten begegneten ihnen kaum an diesem Tag. Als habe sich die Welt vor dem, was hier draußen durch den Winter schlich, verkrochen. Als mieden die Leute diese Welt der Treppenstufen.
    Wie in den alten Märchen.
    In den Dörfern, die vom Unheil heimgesucht wurden.
    Die Fensterläden wurden zugeklappt, und jeder fürchtete sich vor dem, was die Wälder verlassen hatte und auf
der Jagd war. Alle wussten sie, dass etwas geschah, doch niemand hatte den Mut, ihm in die Augen zu sehen. Man hörte die Geräusche und schloss die Augen und hoffte, dass die Menschen, die man kannte, ebenfalls im sicheren Inneren ihrer Katen und Hütten saßen.
    Oh, diese Lauferei! Sie musste an die Sportstunden in der Schule denken, den miesen Dreckskerl in Berlin, der sie begrapscht hatte. Sportlehrer! Ein Ball hatte ihn zufällig mitten ins Gesicht getroffen. Dumm gelaufen.
    Meine Güte, warum fiel ihr das ausgerechnet jetzt ein? Sie erinnerte sich an die Geräusche in der Turnhalle, die Gerüche - und dann fiel ihr ein, dass sie vor vier Stunden eine Englischarbeit verpasst hatte.
    »Was hast du?«, wollte Leander wissen. Der Kerl rannte und rannte.
    »Hab an die Schule gedacht.«
    Die Antwort überraschte ihn. »Was? Ausgerechnet jetzt?«
    Sie hielt an, stemmte die Hände in die Seiten. »Ja, jetzt«, fuhr sie ihn an.
    Er bremste ab, starrte sie an. »Du sollst jetzt nicht an die Schule denken.«
    »Idiot«, entgegnete sie.
    Leander grinste breit. »Wir sind gleich beim Wagen«, versprach er.
    Vesper stieß, innerlich erschöpft, sämtliche Flüche aus, die ihr spontan einfielen. Ihr altes Leben hatte sie irgendwo hinter sich zurückgelassen. Es war einfach passiert, ja, das war alles.

    Einfach.
    So.
    Passiert.
    Vesper schüttelte die Gedanken ab und konzentrierte sich auf die Stufen und das Eis unter dem Schnee.
    Leander indes rannte unverdrossen weiter.
    Weiter, weiter, weiter und immer schneller, die schmalen moosbewachsenen Stufen hinab, die sich schier endlos vor ihnen in die Tiefe erstreckten. Der frisch gefallene Schnee, der alles bedeckte, und das jungfräuliche Eis, das darunter lebte, machten den Abstieg zu einer wahren Rutschpartie. Weiter unten konnte man die graue Elbe erkennen. Kalt und leer wirkte der Fluss, trotz der riesigen Schiffe, die wie Särge darauf fuhren.
    »Bist du mir gefolgt?«, wollte sie im Laufen wissen.
    Er

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