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Grimm - Roman

Titel: Grimm - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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sie gemeinsam waren, nicht ganz so dunkel sein würde wie anderswo.
    Nicht allein.
    So überquerten sie die Überseebrücke und stiegen die steile Gangway zum Oberdeck des Schiffes hinauf. Die Stufen waren rutschig, und Vesper dachte an die Zeiten, da dieses gewaltige Schiff wirklich über die Meere fuhr. Es waren völlig andere Zeiten, eine vollkommen andere Welt.
    Ein frischer Wind wehte ihr ins Gesicht, und als sie endlich oben an Deck angekommen waren, sah sie auf die Stadt. Das portugiesische Viertel war nicht weit von hier, und es kam ihr so vor, als sei sie seit Jahren nicht mehr zu Hause gewesen. Es war ein ganz und gar seltsames Gefühl. Irgendwo dort unten trieben sich all die seltsamen Wesen herum. Und sie war auf einem Schiff, kletterte eine Treppe nach der anderen hinauf, achtete auf die Stufen, die Taue, die Kanten.
    Auf dem zweiten Oberdeck schließlich öffnete Leander die Tür zu einem Gang, der dunkel und eng war. Ein rostroter Teppichboden, abgetreten und leicht muffig, dämpfte ihre Schritte.
    »Da ist es!«, verkündete er.
    Er schloss die Tür auf und ließ Vesper an sich vorbei.
    »Hier wohnst du also«, sagte sie und schaute sich um.
    »Tritt ein und fühl dich daheim.«
    Sie fühlte, wie der Boden unter ihr im Takt der Wellen wankte.

    Die Passagierkabine war klein und eng, ausgestattet mit einem winzigen Bad und zwei Kastenbetten. Aus den eckigen Fenstern mit den altmodischen Vorhängen davor konnte man hinüber zum Südufer der Elbe sehen, dorthin, wo weiter flussabwärts die großen Trockendocks mit den Ozeanriesen darin schwammen, wo sich die Wälder aus Kränen erstreckten, die so typisch waren für die Containergebiete, fremdartige Landschaften, die kaum jemand, der in Hamburg lebte, aus der Nähe zu Gesicht bekam.
    »Du kannst gern das Bett am Fenster nehmen«, schlug Leander vor.
    Ein Koffer lag geöffnet auf dem anderen Bett, darüber ein weiteres Jackett und eine Tageszeitung.
    »Hast du Hunger?«, fragte er.
    Verwirrt erwiderte sie seinen Blick, ließ sich auf das Bett fallen. Ihr Rucksack glitt zu Boden.
    »Hunger.« Er buchstabierte das Wort geradezu. »Essen. Möchtest du etwas essen?«
    »Ja«, sie lächelte ihn an, einfach nur müde. »Ja, gern. Ja, ich bin sehr hungrig.« Sie machte eine verlegene Handbewegung. »Wie konnte ich das nur vergessen?« Jetzt, da sie hier war, schien sie die Erschöpfung der letzten Stunden schier zu übermannen.
    »Ich springe kurz rüber zu den Landungsbrücken. Du kannst unterdessen ein wenig für dich sein.«
    »Okay«, war alles, was sie herausbrachte.
    Leander verschwand durch die Tür, kehrte dann kurz zurück und steckte den Kopf in die Kabine. »Sei noch hier, wenn ich zurückkomme.«

    Sie musste lachen. »Versprochen.«
    Er winkte ihr zu, dann war er fort.
    Vesper blieb allein zurück.
    Durch das Fenster sah sie, wie er schnell und mit schlaksigen Bewegungen die Gangway hinablief, die Überseebrücke hinter sich ließ und in dem gerade erst angebrochenen Abend verschwand.
    Vesper ging zur Tür, verriegelte sie, schlüpfte schnell aus ihren Klamotten und sprang unter die Dusche. Das heiße Wasser rauschte nur so über ihren Körper, und sie dachte an rein gar nichts. Fast hatte sie vergessen, wie gut es tat, an wirklich überhaupt nichts zu denken. Einfach den Dampf zu spüren und die helle Wärme und die Schmerzen zu vergessen.
    Als sie mit dem Duschen fertig war, rieb sie das Kondenswasser von dem Spiegel und betrachtete ihr bleiches Gesicht. Sie versank in ihren eigenen traurigen Augen, und tief darin war noch immer die ferne Kindheit, die sie niemals würde ablegen können. Da waren das Gesicht ihrer Mutter, die Stimme ihres Vaters und all die Umarmungen ihrer Schwester Amalia.
    Einen Moment lang noch stand sie nackt vor dem Spiegel und betrachtete den Körper, den sie dort sah. Dann verließ sie das Bad, lief durch die Kabine und nahm dreist ein Hemd aus Leanders Koffer und schlüpfte hinein. Es war weich, und es war gebügelt und roch nach Sauberkeit und leider nicht wirklich nach ihm.
    Du bist nicht allein.

    Sie schnappte sich noch ein Paar Socken, und dann schaltete sie den kleinen Fernseher ein, der sich direkt neben der Minibar befand, und beim ersten Sender bestürmten sie bereits Bilder von Kindern, die in einen tiefen Schlaf gefallen waren.
    Die Berichte kamen ebenso aus den großen Städten wie aus den Dörfern. Aufgeregte Reporter blickten in Kameras und berichteten exklusiv von einem weiteren Vorfall, der sich erst vor

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